US-Veteranen: Tausche „Purple Heart“ gegen Mittagessen

(c) AP (Mary Altaffer)
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300.000 ehemalige Soldaten leben als Obdachlose auf den Straßen der USA. Die Kriege im Irak und in Afghanistan könnten diese Zahl in die Höhe treiben, fürchten Veteranenorganisationen.

Charlie. Das ist der ganze Name, mit dem er sich vorstellt, und vermutlich nicht einmal der richtige. „Einfach nur Charlie.“ Wer hier auf den Straßen von Baltimore lebt, braucht keinen Nachnamen. Wofür auch? Erstens spricht kaum ein Mensch mit ihm und noch weniger fragen ihn nach seinem Namen. Außerdem verwechselt man Charlie nicht: Er hat einen langen, weißen Bart und keine Beine. Die hat man ihm in Vietnam weggeschossen.

Es ist heiß in der Hafengegend von Baltimore, die sich langsam zum neuen In-Viertel im US-Bundesstaat Maryland mausert. Eine hippe Brauerei; eine Sportbar mit LCD-Fernsehern; ein schickes Sushi-Lokal mit Apothekerpreisen und ein italienisches Kaffeehaus mit hausgemachten Cannoli.

Charlie hat den Aufstieg des Viertels miterlebt. Von außen, natürlich. Keines der Lokale lässt den 57-Jährigen hinein. Die Suppenausgabe, die früher auch hier unten war, haben sie verlegt, damit die Obdachlosen nicht das Stadtbild verschandeln. Aber Charlie gefällt es hier und deswegen rollt er fast täglich auf seinem kleinen Holzwagen durch die Straßen.

Hochdekorierter Soldat

Vielleicht würden sie ihn anders behandeln, ihm einen Cappuccino geben und in der Brauerei vielleicht sogar ein Bier, wüssten sie, wer und was Charlie ist. Ein hochdekorierter Soldat, der nicht nur seine Beine für sein Vaterland ließ, sondern auch seinen Job, sein Haus und seine Familie. Aber es fragt ja niemand.

„Am 2. Mai 1971“ kam er in Vietnam an – ein Datum, das er besser kennt als seinen Geburtstag. 18 Monate war er in dem Land und hat in einem Krieg gekämpft, den niemand mehr führen wollte. Viel hat er in Vietnam erlebt. Was genau, darüber will er nicht sprechen.

„No, Sir“, antwortet er nur knapp. Was er bei den „Marines“ unter anderem kennengelernt hat, waren alle Arten von Drogen. „Das hat geholfen zu vergessen.“ Als 21-Jähriger war er auch naiv genug, um alles auszuprobieren – bis hin zu Heroin.

Als sie ihm nach einer Schlacht die Beine amputieren mussten, wurde er nach Hause geflogen. Die Abhängigkeit hat er mitgebracht. Doch das Leben der Menschen in der kleinen Ortschaft in West Virginia war nicht mehr das seine. Außerdem brauchte er Drogen, und die gab's nur in den Städten. Dorthin machte sich Charlie in den 70er Jahren auf. Zurück ließ er seine Frau, Freunde, sein Leben.

Von den Drogen ist er mittlerweile losgekommen. Eine Rehab-Einrichtung der Regierung, eigens nur für ehemalige Soldaten, hat ihm dabei geholfen. „Dafür trink' ich jetzt mehr“, sagt er lachend. Arbeiten kann oder will er nicht, sein Überleben sichert der Behindertenzuschuss, den er monatlich von der Regierung bekommt.

Dass sich der Vietnam-Veteran ausgerechnet „Charlie“ nennt, zeigt einen feinen Sinn für Ironie. „Charlie“ nannten die Amerikaner damals den Vietcong, den Klassenfeind.

Der 57-Jährige ist einer von geschätzten 300.000 ehemaligen Soldaten, die auf den Straßen der Vereinigten Staaten leben. Sie machen etwa ein Viertel aller Obdachlosen in den USA aus. Die meisten sind Veteranen aus dem Vietnam-Krieg. Doch jetzt fürchtet man eine neue Welle wegen der Kriege in Irak und Afghanistan.

Ein Viertel aller Obdachlosen

„Nach Vietnam hat es neun bis zwölf Jahre gedauert, bevor jemand auf der Straße gelandet ist. Bisher hatten wir US-weit schon 1000 ehemalige Irak-Veteranen, die um Hilfe angesucht haben. Das macht uns Sorgen“, erklärt Emily Button, die bei „US Vets“ in Washington obdachlose Soldaten betreut. „Noch gibt es keinen Ansturm“, sagt Charles Williams von der Obdachlosenbetreuung „MCVET“ in Baltimore, „aber er wird kommen.“

Diesmal sind es nicht die Drogen, wie bei den „Nam-Vets“, die die Hauptschuld daran tragen, dass ein Veteran Job und Haus verliert. Bei den Irak-Heimkehrern spielen andere Faktoren mit, vor denen eine Studie des „Iraq Veteran Project“ warnt: Fast ein Drittel der Heimkehrer leidet unter mentalen Problemen. 40 Prozent der Soldaten seien Reservisten und Nationalgardisten, die nach einem Einsatz erfahrungsgemäß große Probleme hätten, sich wieder in das zivile Leben einzugliedern.

Frauen stärker gefährdet

Erstmals kämpften auch viele Frauen in einem Krieg, die mit zwei- bis vierfach größerer Wahrscheinlichkeit auf der Straße enden als männliche Soldaten. Und dann die hervorragende medizinische Betreuung: „Heute überstehen Soldaten Verletzungen, an denen sie in Vietnam noch gestorben wären“, sagt Button. Doch sie müssen erst lernen, ohne Arme oder Beine zu leben. Viele schaffen es nur mit Alkohol oder Drogen, der Anfang vom Abstieg.

„Die Folgen des Irak-Kriegs werden eine Herausforderung für alle von uns“, heißt es bei der „National Coalition for Homeless Veterans“ in Washington. „Die Nation ist darauf nicht wirklich vorbereitet.“ Zwar tun die USA viel für ihre 25 Millionen Veteranen: Es gibt Krankenhäuser für sie, spezielle Pensionistenheime, sogar ein eigenes Ministerium. Aber die Betreuung von obdachlosen Soldaten ist weitgehend den 250 privaten Vereinen überlassen.

Peinliche Hilfe

„Wir haben 15.000 Betten für obdachlos gewordene Soldaten“, berichtet eine Sprecherin des Veteranen-Ministeriums. „Außerdem investieren wir heuer zusätzlich 24 Millionen Dollar in Betreuung und Unterkünfte.“ Zudem gebe es mehr Programme, um den Soldaten zu helfen, mit den traumatischen Erlebnissen des Krieges fertig zu werden. Aber viele würden obdachlos, weil es ihnen peinlich sei, an solchen Programmen teil zu nehmen, oder weil es schlicht kein Angebot in ihrer Nähe gibt.

Für Charlie ist das alles kein Thema. Er brauche keine Hilfe, er rollt durch Baltimore und „genießt das Leben“, wie er sagt. Mit der Armee will er nichts mehr zu tun haben. Sogar das „Purple Heart“, der Orden für Verwundung im Einsatz, hat er nicht mehr. Das hat er schon vor Jahren eingetauscht – gegen ein Mittagessen.

WISSEN. Veteranen machen wieder mobil

25 Millionen Menschen gelten in den USA als Veteranen, in den nächsten Jahren soll diese Zahl auf 17 Mio. sinken. Um sie kümmert sich das Department of Veteran Affairs, Jahresbudget 2006 knapp 70 Mrd. Dollar. Es betreibt 156 Krankenhäuser, 135 Altersheime, 43 Rehab-Stätten und 711 Kliniken.

Die US-Veteranen sind aber der Meinung, dass das nicht ausreicht. Sie brachten eine Sammelklage gegen die US-Regierung ein, um mehr finanzielle und medizinische Unterstützung zu erhalten. Zwischen 320.000 und 800.000 Veteranen sind nach Auskunft der Anwälte davon betroffen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.08.2007)

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