EU-Vertrag steht und fällt mit Polen

AP
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Reformpaket. Warschau könnte Verhandlungen kippen, auch London schießt quer.

BRÜSSEL. Der 18. und der 19. Oktober sollen Europa eine Sternstunde bringen: mit der Verabschiedung des „Vertrags von Lissabon“ durch die Staats- und Regierungschefs. Damit würde ein jahrelanger Kampf um eine neue Rechtsgrundlage für die EU-Institutionen zu Ende gehen. Es gäbe raschere Entscheidungen im Ministerrat der 27 Regierungen, weniger Vetomöglichkeiten für die Nationalstaaten und eine Art „EU-Außenminister“, der für die EU mit einer Stimme in der Welt sprechen soll. Die EU, die seit 2004 unter Stöhnen und Ächzen um zwölf Staaten gewachsen ist, würde wieder handlungsfähig. So steht es zumindest auf dem Programm.

Doch jetzt, nur zweieinhalb Wochen vor dem Großereignis, verdichten sich die Anzeichen, dass der Gipfel für die portugiesische EU-Präsidentschaft eher zu einem politischen Albtraum werden könnte, als dem Vorsitzland Glanz und Glorie zu bescheren. Und auch in Brüssel und vielen EU-Hauptstädten steigt mittlerweile die Angst, dass Mitgliedsländer wie Polen oder Großbritannien das Reformpaket noch in letzter Minute gefährden.

Dabei hatte die deutsche Präsidentschaft beim vorherigen Gipfel im Juni in Brüssel alles aufgeboten, was Warschau und London den neuen Vertrag schmackhaft machen könnte – das Dokument „Verfassung“ zu taufen, hatte man sich ohnehin nicht mehr getraut, nachdem der Entwurf 2005 in Frankreich und den Niederlanden per Volksabstimmung abgelehnt worden war.

Vetorecht bis 2017

Die „Joannina-Klausel“ für ausgedehnte Vetorechte bis 2017 sollte Warschau und andere Regierungen damit versöhnen, dass es eine neue Stimmgewichtung im Rat geben wird, die sich an der Bevölkerungszahl orientiert. Dabei würde Polen ein wenig Einfluss verlieren, sein großer Nachbar Deutschland aber dazugewinnen.

An London gab es das Angebot, dass es ein „Opting-out“ bei den gemeinsamen Grundrechten beanspruchen dürfe, Großbritannien also nicht daran teilnehmen müsse. London wehrte sich vor allem gegen den sozialen Aspekt der Grundrechte, etwa die verpflichtenden Betriebsräte.

Doch jetzt könnte wieder alles anders kommen: Polens Regierung unter Premier Jaroslaw Kaczynski und seinem Zwillingsbruder, Präsident Lech Kaczynski, ist es zuzutrauen, dass sie den Gipfel platzen lassen. Schon im Juni strapazierte der Präsident die Geduld der deutschen Verhandlungsführerin Angela Merkel über Gebühr.

Am 18. und 19. Oktober könnten die Polen das nationale Interesse umso stärker in den Vordergrund rücken. Denn schon am 21.Oktober stellt sich Jaroslaw Kaczynski vorgezogenen Parlamentswahlen. Die Aussichten für seine konservative „Partei für Recht und Gerechtigkeit“ sind nach einem harten, unsolidarischen Kurs nicht gerade gut. Was läge da näher, als im Kampf um Stimmen noch einmal die Anti-EU-Karte zu ziehen, befürchten Experten.

London will à la carte mitreden

In London soll es hingegen neue Begehrlichkeiten für den Schengen-Raum geben. Zu diesem zählt Großbritannien zwar gar nicht. Trotzdem könnte Premier Gordon Brown mit einem Vorschlag vorpreschen, der in der EU Neuigkeitswert hätte: Er könnte, so heißt es unter Insidern, ein „Opt-in“ fordern. Damit würde London immer dann über das System der offenen Grenzen mitbestimmen dürfen, wenn ihm geplante Änderungen missfallen.

Eine Position, die schwer zu argumentieren sein wird, doch als einer der „großen Drei“ in der EU wird Brown, wie Deutschlands Angela Merkel und Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy, sicher Gehör finden. Von Deutschland ist zwar kein Querschuss zu befürchten. Doch auf den unberechenbaren Nicolas Sarkozy müsse man „immer aufpassen“, warnen Beobachter. Niemand aber jagt den Beteiligten derzeit so viel Angst ein wie Polen.

AUF EINEN BLICK

Das bringt der EU-Vertrag: Ab 2009 werden Mehrheitsentscheidungen im Rat ausgedehnt, Vetorechte eingeschränkt. Der Ratspräsident wird für 2,5 Jahre (statt für ein halbes Jahr) bestimmt. Der Hohe Repräsentant für die Außen- und Sicherheitspolitik wird gestärkt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.10.2007)

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