Am Grab des American Dream

Vernagelte Fenster, Brandruinen, Plünderungen. Und allein heuer mehr als 2000 Familien, die hier ihr Heim verlieren: Slavic Village, Ohio– Nachrichten aus dem Epizen- trum der US-Immobilienkrise.

Auf der Terrasse steht eine Hollywood-Schaukel. Links vom Eingang Pflanzen, rechts ein grinsender Gartenzwerg. Das Haus, weiß gestrichen, hat blaue Fensterläden, eine ausladende Veranda, an der Eingangstür hängt ein buntes Holzschild: „Welcome“. Es ist ein nettes kleines Haus in der East 72nd Street in Cleveland (US-Bundesstaat Ohio), das so gar nicht zu dem gegenüber passt – dem mit den vernagelten Fenstern und Türen. Oder zu dem nebenan, das langsam von Gras und Sträuchern überwuchert wird. Oder zu der Brandruine etwas weiter die Straße hinunter; oder zu dem halb abgerissenen einen Block entfernt; oder zu dem, dessen Fenster und Türen fehlen.

Nein, das nette kleine Haus von Marilyn Francis Zuppert passt überhaupt nicht in diese Straße. Es passt nicht einmal in dieses Grätzel. Denn diese Gegend von Cleveland ist keine nette Gegend. Slavic Village ist das Epizentrum der aktuellen Immobilienkrise in den Vereinigten Staaten. Die Postleitzahl 44105 steht für einen traurigen US-Rekord: In keinem anderen Bezirk in den USA gibt es so viele Zwangsvollstreckungen wie hier.

Mehr als 2000 Familien werden heuer ihr Haus in Slavic Village verlieren, weil sie sich die Kreditrückzahlungen nicht mehr leisten können – und das bei einer Einwohnerschaft von nur 30.000 Personen. Im ganzen Cuyahoga County in Ohio, das die Liste der Counties mit den meisten Zwangsvollstreckungen der USA anführt und zu dem Slavic Village gehört, rechnet man 2007 mit 18.000 Zwangsvollstreckungen – bei 1,4 Millionen Einwohnern.

Die amerikanische Immobilienkrise ist in Slavic Village mehr als eine bedrohliche, kalte Statistik. Hier hat sie Gestalt angenommen – in Form von aufgelassenen Häusern, die niemand mehr kaufen will oder die sich niemand mehr in dieser armen Nachbarschaft leisten kann. Wie Grabsteine auf dem Friedhof des amerikanischen Traums stehen sie verstreut in Slavic Village.

Knapp 1000 sind es nach letzten Schätzungen. Zu zählen hat man schon lange aufgehört, weil es täglich mehr werden und man das größere Ganze verwaltet, nicht mehr Einzelschicksale. Die meisten der 2000 Häuser, aus denen ihre Pleite gegangenen Besitzer heuer ausziehen müssen, werden vermutlich so enden wie Zupperts Nachbarhaus: mit dicken Brettern vor Fenstern und Türen, eingemottet in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

„Das war einmal eine wunderschöne Straße hier mit vielen sympathischen Menschen“, erzählt Marilyn Francis Zuppert. Man feierte Geburtstage zusammen, jährlich gab es ein großes Thanksgiving-Fest. Zu Halloween gingen die Kinder der 72.Straße gemeinsam von Haus zu Haus, „wie eine Prozession“, sagt Marilyn wehmütig lächelnd. Und im Winter war die ganze Straße erhellt von den Weihnachtsbeleuchtungen, die auf jedem Haus hingen.

„Es war schön da“, sagt Marilyn Zuppert wieder, als müsse sie sich selbst ihre Erinnerung bestätigen. Seit 23 Jahren lebt sie hier in Slavic Village und sah den Niedergang, Jahr für Jahr. „Jetzt habe ich noch einen Nachbarn“, erklärt sie und deutet mit der Hand weit die Straße hinunter, vorbei an den aufgelassenen Gebäuden. Natürlich fürchtet sie sich. „Ich bin ganz allein mit meinem Hund, und Waffe habe ich auch keine.“ Nicht, dass sie wüsste, wie man mit einem Revolver umgeht, wenn die Banden kommen, die die leer stehenden Häuser plündern.

Denn mit den verlassenen Häusern kam die Kriminalität nach Slavic Village. Zuerst die Obdachlosen, die die leeren Häuser in Beschlag nahmen; Drogenabhängige, die eine Unterkunft brauchten; oder auch kleine Hippie-Kommunen, wie die in der 76. Straße, die mit bunten Lettern „Smoker Jokers“ auf die Außenwand gepinselt hat.

Gefährlicher sind die Gangs, die sich in den verlassenen Straßen treffen und organisieren. Oder die fast schon professionellen Banden, die ihren Lebensunterhalt damit verdienen, die aufgelassenen Häuser auszuschlachten.

„Kein Kupfer“, hat jemand auf seine Hausfassade gesprüht. Ein verzweifelter Versuch, das Heim zu retten. Denn ein Übersiedlungswagen ist wie ein Startschuss für die Plünderer. „Ein Nachbar ist am Freitag ausgezogen, am Sonntag waren sie schon da“, erzählt Marilyn. „Sie“: Das sind Arbeitslose und schlecht bezahlte Angestellte, die es auf die Wasserleitungen abgesehen haben. Die sind aus Kupfer und bringen bei den Altstoff- und Metallwarenhändlern ein paar Dollar. Oft am helllichten Tag fallen sie über das Haus her, reißen die Leitungen aus den Wänden, tragen Toiletten und Waschbecken hinaus. Auch mit der Seitenverkleidung eines Hauses, die in den USA meist aus Aluminium ist, lässt sich Geld machen. Wenn die Plünderer fertig sind, kann man das Haus auch gleich abreißen.

Manchmal, erzählt John, der Polizist, der in seinem weiß-schwarzen Ford Crown Victoria durch die Gegend führt, manchmal seien es auch verzweifelte Hausbesitzer, die aus ihrem einst stolzen Heim noch herausholen wollen, was sie können, bevor es die Bank übernimmt. „Was soll man da machen? Offiziell gehört ihnen das Haus ja noch.“

Die Kriminalität hier in Slavic Village steigt in Rekordwerten. Morde: plus 23 Prozent. Überfälle: plus 13 Prozent. Einbrüche: plus zwölf Prozent – in die noch bewohnten Häuser. Niemand ruft mehr die Polizei, wenn ein aufgelassenes Haus ausgeräumt wurde.

Anfang September haben sie unten, an der Ecke 57. Straße/Francis ein zwölf Jahre altes Mädchen erschossen. Asteve Thomas hatte gerade in dem Geschäft Süßigkeiten eingekauft, als draußen vor der Tür zwei Jugendliche ihre Revolver zückten. Am Ende lagen ein Bandenmitglied und Asteve blutüberströmt auf dem Boden. Die Geschäftsbesitzerin, Mary James, sammelte 3000 Dollar, damit sich Asteves Eltern das Begräbnis leisten konnten. Bei der Beerdigung ließen sie eine weiße Taube fliegen. Minutenlang schweigt John, nachdem er die Geschichte erzählt hat.

Slavic Village war nicht immer diese traurige Ansammlung zerbrochener Träume. Nach dem Zweiten Weltkrieg ließen sich hier viele Einwanderer aus Polen, der damaligen Tschechoslowakei und anderen osteuropäischen Ländern nieder, daher der Name Slavic Village. Noch heute heißt die größte Kirche St. Stanislaus, nach dem polnischen Nationalheiligen und Bischof von Krakau. Hier gab es Arbeit, vor allem in den Stahlfabriken, deren stillgelegte Schlote noch immer mitten aus der Wohngegend ragen. Den Reichtum von einst kann man noch auf der Broadway Avenue erahnen mit ihren großen Ziegelbauten und verzierten Steinsäulen.

Doch dann sperrte Stahlfabrik um Stahlfabrik zu, die verbliebene „Mittal Steel“ rationalisierte jüngst 3500 Arbeiter weg. Es traf mittelständische Angestellte und weniger gut bezahlte Arbeiter, Zulieferer und Transporteure, Banken und Geschäftsleute. Geblieben ist die typische Tristesse einer ehemals erfolgreichen Industriestadt mit verstaubten Schaufenstern und zu großen Bürogebäuden für zu wenige Firmen. Das durchschnittliche Haushaltseinkommen beträgt heute nur noch 25.000 Dollar brutto pro Jahr.

Die Boomzeiten nach dem 11. September 2001, als man Kreditzinsen knapp über der Inflationsrate bekam, hievten Slavic Village noch einmal über die Krise hinweg. „Interest-only“-Kredite machten es möglich, ohne Anzahlung ein Haus zu kaufen. Der Traum vom Eigenheim schien sich endlich auch für die Bewohner von Slavic Village zu erfüllen. Und die, die schon ein Haus besaßen, konnten sich einen besseren Lebensstil leisten mit immer neuen Krediten auf den stetig steigenden theoretischen Wert ihres Hauses. Doch als es abwärts ging, die Zinsen anzogen und die Banken ihr Geld wollten, brach das Kreditkartenhaus in sich zusammen.

Viele fielen auch auf die Betrügerbanden herein, die sich mit Zusagen und Tricks an die Verzweifelten heranmachten. Wie etwa an den 78-jährigen Josh Carter, der sein Haus verkaufen wollte, um in ein Altersheim zu gehen. Ein Immobilienmakler riet ihm, das Gebäude erst zu verschönern, dann werde er es schneller los und bekomme einen besseren Preis: eine neue Veranda, eine neue Hausverkleidung, ein paar Verbesserungen im Garten. Zufälligerweise habe er eine sehr verlässliche Firma bei der Hand. Josh nahm also einen 50.000-Dollar-Kredit auf sein Haus auf, zahlte damit die zwei Arbeiter und die Vermittlungsgebühr, die der Immobilienmakler forderte, und wartete. Irgendwann malten sie tatsächlich sein Haus an, aber das war's: keine Veranda, keine Verkleidung, nur neue Schulden. Am Montag versteigerten sie das Haus, in dem Josh aufwuchs.

Oder der Trick mit dem Kauf und Verkauf des Hauses. Weil sie die Raten nicht mehr bezahlen konnte, antwortete Emily Tantour auf eine kleine Anzeige im „Plain Dealer“: Sie sollte das Haus an den Makler überschreiben, er zahle weiter die Raten, sie solle nur zahlen, was sie könne, und wenn es ihr finanziell besser gehe, könne sie das Haus mit einem leichten Aufschlag zurückkaufen. Ein dicker Vertrag wurde unterschrieben, Emily zahlte ihre monatliche Miete, und als sie wieder Geld hatte, wollte sie ihr Haus wieder haben. Doch der Makler forderte den Marktwert – fast das Doppelte dessen, was er bezahlt hatte.

James Jones kennt sie alle, die Tricks, die versteckten Klauseln, das Kleingedruckte. „Sie haben die Situation und die Verzweiflung der Menschen ausgenützt“, sagt der Mitarbeiter der Beratungsstelle ESOP in Cleveland. In Slavic Village hatten die Banden leichtes Spiel. Zum einen war die Verzweiflung hier größer als anderswo, und andererseits: „Hier leben viele Arbeiter, die gutgläubig sind und nicht viel Erfahrung mit Banken und Krediten haben.“ Selbst seriöse Institute machten viel Geld mit den Träumen von den eigenen vier Wänden: 4,9 Prozent Zinsen boten sie an – „adjustable“, wie am Seitenende klein stand. Der Zusatz sei nicht wichtig, wurde dem Kreditnehmer erklärte. Plötzlich schnellte die Zinsrate – „adjustable“ – auf neun Prozent, auf zwölf, manche zahlen mittlerweile 14, 15 Prozent Zinsen pro Jahr. Im ESOP-Büro verwenden sie ein Foto des Chefs der Kreditfirma Countrywide als Zielscheibe beim Darts.

Versuche, eine Einigung zwischen Banken und Schuldner zu erreichen, scheitern meist, erzählt James Jones. „Die interessiert das kleine Haus ebenso wenig wie das Schicksal der Menschen: Die wollen ihr Geld, und wenn sie es nicht bekommen, wird zwangsgeräumt.“ Mittlerweile gehört den Banken ein Großteil der aufgelassenen Häuser in Slavic Village. Um 20.000 Dollar und weniger bieten sie die Einfamilienhäuser an, doch niemand kauft. Wer will schon in einer Geisterstadt leben? In den meisten Vorgärten steckt nicht einmal mehr ein „For-Sale“-Schild. Also verfallen die Häuser langsam, wenn sie nicht von den Plünderern ausgenommen werden.

Marie Kittredge kennt fast jeden, der noch in Slavic Village wohnt. Sie ist Chefin der „Slavic Village Development“, einer halb öffentlichen Organisation, die wieder Leben in die Vorstadt bringen will. Man hat einen Radweg gebaut, mehrere aufgelassene Häuser gekauft, abgerissen und einen Park gemacht, ein neues Gemeindezentrum errichtet mit einem Schwimmbad und einem Fitnesscenter. „Wir wollen, dass Slavic Village wieder ein lebenswerter Ort wird.“

Wie viel Arbeit vor ihr liegt, weiß Marie Kittredge. „Manchmal fühle ich mich wie Sisyphos: Kaum haben wir hier etwas getan, bricht dort schon die nächste Krise aus.“ Als sie vor 20 Jahren hierher zog, hatte sie einen frischen Abschluss vom MIT in Boston in der Tasche und große Ziele. „Es war eine nette Nachbarschaft, ethnisch bunt gemischt, viele kleine Lokale, Parks, im Sommer gab es Konzerte. Deshalb ist es so wichtig, für Slavic Village zu kämpfen.“

Eine kleine Geste ist die Aktion „Smiley“: Kinder malen die Bretter bunt an, mit denen Fenster und Türen vernagelt sind. Es soll die tristen Straßen voller leer stehender Häuser etwas freundlicher machen.

Gegen die wachsende Kriminalität hat man neulich ein Drei-Punkte-Programm verabschiedet: Man will Graffiti abwaschen, die als Revierzeichen von Gangs gelten; ein Ausbildungsprogramm soll Jugendliche von der Straße wegbringen; und man bietet den Rückkauf von Waffen an. Jeder, der seine Pistole oder seinen Revolver abliefert, bekommt dafür zwischen 50 und 100 Dollar. „Das ist unsere Stadt: Wir dürfen nicht zulassen, dass sie von Kriminellen übernommen wird.“

Auch in den wenigen noch bewohnten Straßen will man den Kampf nicht aufgeben. „Wir können etwas tun und versuchen, unser Leben hier zu gestalten. Oder wir können zusehen, wie es immer schlechter wird, und wegziehen“, sagt Barbara Anderson. Sie wohnt in der 75. Straße und hat den Verein „Bring back the 70s“ gegründet. Nicht die Siebzigerjahre will man zurückhaben, sondern die Siebziger-Straßen – East 70th bis East 79th. „Man soll wieder ohne Angst durch unser Viertel gehen können.“

Der Verein organisiert monatliche Aufräumaktionen. Dann marschieren die 40, 50 Mitglieder mit Plastiksäcken durch die Straßen und sammeln leere Bierdosen, weggeworfene Pommes-frites-Schachteln und McDonald's-Becher ein. Man hat Blumen gepflanzt, eine Straße zu einer Sackgasse gemacht, um den Verkehr einzubremsen, und vor dem kleinen Lebensmittelladen zwei Überwachungskameras installiert. Der Monitor, der einen leeren Platz vor dem Geschäft zeigt, steht in der Küche. „Früher haben hier ständig Jugendliche mit Drogen gehandelt. Seit die Kameras da sind, sind sie weg“, erzählt Barbara Anderson stolz. Die 5000 Dollar für die Überwachungsanlage kamen von lokalen Geschäften. „Wir sind betteln gegangen.“

An diesem Abend gibt es in Andersons Haus ein Vereinstreffen. Neun Mitglieder sitzen in den dicken Plüschsesseln und auf dem Ledersofa, auf einem Beistelltisch steht eine nicht fertig gespielte Schachpartie, die Luft riecht nach Räucherstäbchen. Eines der Probleme, die man heute lösen will: Was tun mit den kaputten Autos, die ihre Besitzer einfach auf der Straße stehen lassen? James Carter, der Kassier, kennt jemanden in der Stadtverwaltung. Er werde ihn bitten, die Autos abschleppen zu lassen. Rick Venesky verspricht, mit lokalen Geschäftsleuten zu reden, damit die Jugendlichen der Siebziger-Straßen für Lehrpraktika bevorzugt werden. Jeff Perdue regt an, die Aufräumaktion bis über die Union Avenue auszuweiten, weil es dort so dreckig sei, „dass man sich schämen muss“.

Draußen geht langsam die Sonne unter und wirft lange Schatten auf die Hausruinen. Irgendwo hört man eine Polizeisirene, über der „Broadway Pizza“ im kleinen Zentrum flackert rot das „Open“-Neonschild, doch das Restaurant ist menschenleer. Der Parkplatz hinter dem Büro der „Slavic Village Development“ ist in helles Licht getaucht, eine Maßnahme, um Kriminelle abzuhalten. Und auch das kleine Denkmal ist erleuchtet, das man kürzlich aufgestellt hat – ein langer Stock, auf dem in sechs Sprachen steht: „Möge Frieden auf Erden sein.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.11.2007)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.