Quallen: Gel©e de mer

Seit 670 Millionen Jahren schweben sie durch die Meere und fressen und fressen und fressen, vorher töten sie mit den stärksten aller Gifte. Sie lehren auch die Menschen das Fürchten, fast das Erstarren vor ihrem Anblick. Quallen: ein Glibber.

Er riss den Mantel von der Schulter: ,Um Gottes Willen: Öl, Opium, Morphium!', schrie er: ,Irgendetwas, das diese Höllenqual mildert!' Der Inspektor und ich schrien auf über das, was wir sahen. Da, auf der nackten Schulter des Mannes, war dasselbe netzartige Muster aus roten, entzündeten Linien, das das Todeszeichen von Fitzroy McPherson gewesen war." Sherlock Holmes ermittelt, der Schwerverletzte bringt ihn auf die Spur des Mörders, der Tatort war derselbe, Holmes und der Inspektor eilen hin, an den Strand, Holmes sieht etwas im Wasser: ",Cyanea'!, schrie ich: ,Cyanea! Sehen Sie da: Die Löwenmähne!'"

Der Täter ist eine Täterin von so absonderlicher Gestalt - sie hat keinen Kopf und kein Gehirn, kein Herz und kein Blut, kein vorne und hinten -, dass die Taxonomen lange nicht wussten, ob sie die Lebensform den Pflanzen oder den Tieren zuordnen sollten: Cyanea ist eine Qualle, ihrer tödlichen Waffen wegen zählt man die heute zu den Cnidaria, den Nesseltieren. Aber der Erste, der sie erforschte, hielt sie für Pflanzen: "Bei der ersten Operation, die ich mit den Polypen ausführte, habe ich sie in die linke Hand genommen und mit der rechten Hand eine Schere um sie geführt", beschrieb der Naturforscher Abraham Trembley den Versuch, mit dem er am 25. November 1704 in Genf die Experimentalbiologie begründete: "Dann habe ich die Schere geschlossen." Ob er den Schnitt nun quer führte oder längs, bald waren wieder zwei Polypen da, diese Regenerationsfähigkeit hatten nach damaligem Stand nur Pflanzen. Heute weiß man, dass aus einer einzigen Zelle ein ganzer Polyp werden kann - und nennt solche Zellen totipotent, manche Labormäuse haben sie auch, hier heißen sie embryonale Stammzellen. Hinter ihnen ist die Molekularbiologie her wie einst die Alchemie hinter dem Stein der Weisen, an Nesseltieren kann man sie gut studieren, sie bevölkern immer mehr Labors.

Trembley hat mit Polypen - Hydra - experimentiert, die fest am Boden sitzen, was haben die mit frei schwebenden Quallen zu tun? Das blieb lange dunkel, das Interesse erlosch, Nesseltiere galten als primitiv, sie haben, so steht es in den Büchern, nur zwei Keimblätter, Ektoderm und Endoderm. Das eine bildet die Außenhaut der glocken- und würfelförmigen "Sackdarmgeschöpfe", das andere kleidet das Innere aus. Dazwischen liegt die glibbrige Schicht, die zu 99,7 Prozent aus Wasser besteht, den Körper stützt und den Quallen viele Namen gegeben hat, gel©e de mer, jellyfish. Bei höheren Tieren liegt etwas anderes zwischen Ekto- und Endoderm, das Mesoderm, aus ihm entwickeln sich alle Organe. Quallen haben kein Mesoderm - in den Büchern -, deshalb waren sie lange der Forschermühe nicht wert. Zudem war die Mühe oft vergebens, Quallen zerfallen zu Gallertklumpen, wenn man sie mit Netzen fischt. Und Unterwasserkameras gab es noch nicht, als Ernst Haeckel den nächsten Anlauf unternahm: "Niemals werde ich das Entzücken vergessen, mit dem ich als zwanzigjähriger Student die erste Tiara und Irene, die erste Chrysaora und Cyanea beobachtete und ihre prächtigen Formen und Farben mit dem Pinsel wiederzugeben suchte", erinnerte sich Haeckel 1879 im "System der Medusen".

Mit dem Pinsel gelangen ihm staunenswerte Portraits, und mit der Feder brachte Haeckel, angeregt vom "gemeinen Süßwasserpolypen", sein "Biogenetisches Grundgesetz" zu Papier: "Die Ontogenesis ist die kurze und schnelle Rekapitulation der Phylogenesis": So wie sich ein Embryo entwickelt, haben sich die Arten entwickelt, bis zu jener, zu der der Embryo gehört. Das war lange strittig und teilweise vergessen, seit ein paar Jahren ist es wieder da, nun heißt es "Evo-Devo" - Evolution & Development -, man erforscht es unter anderem an Quallen. Es? Etwa die Entwicklung der Augen, doch, manche Quallen haben Augen, hoch entwickelte, man weiß nur nicht, ob sie damit auch sehen - es gibt keinen Abstand zwischen Linse und Netzhaut -, und wenn ja, was: Die Augen schauen nicht in die Welt hinaus, sondern in den Magen hinein, vielleicht überwachen sie das Verdauen.

Da hätten sie viel zu tun. Seit 670 Millionen Jahren sitzen die Polypen am Seeboden und schweben die Quallen im Wasser - und wechseln einander von Generation zu Generation ab: Im frei lebenden Stadium, dem der Quallen, vermehren sie sich sexuell, legen Eier, daraus schlüpfen Larven; die setzen sich fest und sorgen asexuell für die nächste Runde, sie schnüren an ihrem Kopf eine Qualle nach der anderen ab, wie wenn ein Stapel Teller abgeräumt wird. Aber ob nun sesshaft oder auf Reisen, sie fressen und fressen und fressen, eine 25-Zentimeter-Ohrenqualle braucht im Leben eine Million Heringslarven: "Rhizopia soll im Golf von Kalifornien täglich (!) fast ein Drittel der gesamten Fischlarven auffressen, und Physolia im Golf von Mexiko gar bis zu 60 Prozent", bilanziert Meeresbiologe Thomas Heeger ("Quallen, gefährliche Schönheiten", Hirzel Verlag, höchst instruktiver Text, großartige Fotos, leider: Euro 41,10): "Sie hinterlassen leergefischte Wasserwüsten", in den Neunzigerjahren haben sie das Schwarze Meer in eine Einöde verwandelt, eine neue Art war mit Ballastwasser aus den USA gekommen. Und sie können nicht nur Fische und Fischfang ruinieren, sie haben es mit ihrer Wirtschaftskraft bis hinauf ins Wall Street Journal gebracht, das am 15. 12. 1999 meldete, ein Schwarm Aurelia habe 40 Prozent der Stromversorgung Kubas lahm gelegt, die Kühlwasserrohre verstopft.

Die Schäden sind groß, man hat viel versucht, die schleimigen Massen abzuwehren, nichts hilft, nur eines: Quallen. Das Schwarze Meer lebte wieder auf, als noch eine Qualle kam, wieder mit Ballastwasser aus den USA. Die machte sich über die andere her, mit denselben Waffen, mit denen alle Quallen jagen, mit dem Gift in ihren Tentakeln. Nicht nur die Löwenmähne ist tödlich, die australische Seewespe, Chironex fleckeri, hat das stärkste aller Gifte der Natur - laut Heeger, der gerne rechnet, reicht das Gift einer Seewespe für 250 Menschen -, allein an Australiens Küsten sterben mehr Menschen an Quallen als weltweit an Haien. Für Chesapeak Bay in den USA gibt es eine amtliche wöchentliche Quallenprognose (http;//coastwatch.noaa.gov.seanettles), in Australien warnen Schilder, wenn die Schwärme nahen, und an den Schildern hängen Flaschen mit Essig zur ersten Linderung. Urin soll auch helfen und Sand, keinesfalls jedoch sollte man versuchen, Nesseln in der Haut mit Wasser abzuspülen, sie werden dadurch aktiv (das bleiben sie auch bei toten Tieren, bloß nicht zugreifen).

Die Nesseln sind ein technisches Mirakel - sie schleudern Harpunen mit 40.000 g, ein g ist 9,81 Meter pro Sekunde, alles muss Heeger nicht vorrechnen -, sie sitzen millionenfach etwa in den bis zu 50 Meter langen Tentakeln der Portugiesischen Galeere, Physilia. Die ist auch ein soziales Mirakel: Ihre Tentakel sind überhaupt keine Tentakel, es sind zu Tentakeln gewordene ganze Quallen. Die Galeere ist eine Staatsqualle, eine Kolonie aus vielen Individuen, die sich spezialisieren, die einen fangen das Futter, die anderen verdauen es, die dritten halten das Segel in den Wind, ja, das Segel, die Sozietät baut einen gasgefüllten Sack, der aus dem Wasser ragt, mit ihm navigiert sie fast wie eine Rennyacht, sie kann 33 Grad am Wind segeln (Yacht: 40). Alles zusammen darf man getrost als Organismus mit Organen betrachten: Die Galeere braucht kein Mesoderm, sie hilft sich mit Arbeitsteilung.

Andere kommen langsamer voran, dafür aus eigener Kraft, mit dem Rückstoßprinzip. Dazu brauchen sie Muskeln. Und Muskeln gehören zum Mesoderm. So hat dann auch Volker Schmidt (Basel) "in Medusen dieselben muskelspezifischen Gene wie im Mesoderm der Wirbeltiere" gefunden (International Journal for Developmental Biology, 46, S. 39). Damit war das erste Dogma erschüttert, andere folgten. Quallen haben keinen rechten Bauplan, sie sehen aus wie Wagenräder ("radiärsymmetrisch"), ihnen fehlt die Achse für vorne und hinten ("bilaterial")? Ja, aber als Larven haben sie die Achse. Polypen haben kein Gehirn, nur ein Nervennetz? Ja, aber um den Schlund herum ist es so dicht geflochten, dass Thomas Holstein (Heidelberg) in Hydra "die Geburtshelferin des Kopfes" sieht (Presse, 7. 6. 2003). Und Cnidaria haben viele Gene aktiv, die in der weiteren Evolution still und erst bei Wirbeltieren wieder aktiv sind. Genetisch sind sie uns näher als Fruchtfliegen und Nematoden, Kevin Peterson (Dartmouth) will deshalb die ganze "Frühgeschichte der Tiere" umschreiben (demnächst in Paleobiology).

Aber wie kann man sehen, wann welches Gen aktiv ist? Man markiert es mit Luziferase, dem Leucht-Gen der Qualle, das zum zentralen Werkzeug aller Genetiker geworden ist: "Was für ein wunderbares grün schillerndes Licht die weichen eklen Quallen warfen, die wie atmende Blasen bald auftauchten, bald wieder in die Tiefe sanken" (Friedrich Gerstäcker, "Das Wrack"). Angeschwemmt wurden sie auch, etwa bei Neapel. Dort fiel Plinius dem Älteren (23 bis 79 A. D.) "pulmo marinus" ins Auge, eine Qualle mit leuchtendem Schleim: "Man kann ihn von der Schirmoberfläche abschaben und die verschiedensten Objekte einreiben, die dann ihrerseits zu leuchten anfangen." Plinius soll seinen Stock damit illuminiert und beim nächtlichen Heimweg wie eine Fackel vor sich her getragen haben. Vielleicht spendete ihm die Qualle auch Licht, wenn an der "Historia naturalis" feilte, in der er etwa den Basilisken beschrieb, jene Ausgeburt von Hahn und Kröte, die durch den bloßen Anblick tötet - und durch das Vorhalten eines Spiegels getötet wird.

Manche halten ihn für die Wiedergeburt der Gorgo Medusa, noch ein Kriminalfall, der der Aufklärung harrt: Perseus hat sie erschlagen, aber wie? Direkt hinsehen durfte er nicht, Athene gab ihm einen goldenen Schild als Spiegel, das Bild darin tötet nicht. Aber wie erschlägt man eine, die nicht im Blickfeld sein darf, also auch nicht vor der Schwerthand? Stand er mit dem Rücken zu ihr? Wie dann zuschlagen? Holmes hilf!

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