Ernst von Glasersfeld: „Wirklichkeit ist unmöglich“

Sohn eines k.u.k. Beamten, Farmer in Irland, berühmt als ein Begründer des „Radikalen Konstruktivismus“: Der Philosoph Ernst von Glasersfeld wird heute 90.

Ein Altösterreicher, der in Villach geborene Paul Watzlawick, hat den „Radikalen Konstruktivismus“ ins Populäre übersetzt (und eine „Wirklichkeitsforschung“ daraus gemacht). Begründet aber hat ihn ein anderer Altösterreicher, der heute, Donnerstag, seinen 90.Geburtstag feiert. Ernst von Glasersfeld, Sohn eines k.undk. Diplomaten und einer Münchner Schirennläuferin, hat alte Zweifel (bekannt schon von den Vorsokratikern, Hume oder Kant) neu formuliert und radikalisiert.

Demnach bilden Wahrnehmungen und Vorstellungen die Wirklichkeit nicht ab, jedes Gehirn konstruiert sich seine eigene Wirklichkeit. Und diese kann nie auf ihre Übereinstimmung mit einer objektiven Realität geprüft werden, bestenfalls auf ihre „Brauchbarkeit“ – ihre „Viabilität“, wie Glasersfeld es nennt. Sie kann auch nicht mit der Wirklichkeit anderer in Deckung gebracht, nur angenähert werden. Die Konsequenzen eines solchen Denkens hat der vor zwei Jahren kurz in Österreich weilende Wahlamerikaner in einem „Standard“-Interview anhand eines drastischen Beispiels veranschaulicht: „Wir können die Wahrheiten von anderen nicht umkonstruieren. Wer sagt, es hätte keine Gaskammern gegeben, lügt. Aber es ist seine Wahrheit.“

Von Südtirol in die USA

Wie sehr Glasersfelds Denken in seiner Lebensgeschichte wurzelt, hat er vor zwei Jahren in einer auf CD erschienenen „persönlichen Geschichte des radikalen Konstruktivismus“ geschildert. Der kleine Ernst, geboren 1917 in München, aufgewachsen im Südtirolerischen Meran und einem Schweizer Internat, bewegte sich zwischen Deutsch, Englisch und Italienisch. Diese Mehrsprachigkeit hat Glasersfeld gewissermaßen die sprachliche Unschuld geraubt – nämlich zu glauben, Sprache bilde „die Wirklichkeit“ ab. Andere werden sich erst durch Fremdsprachen und nie so intensiv dessen bewusst: Dass es für eine Empfindung, die sie mit einem bestimmten Wort verknüpfen, in einer anderen Sprache keine Entsprechung gibt. „Das war der Ursprung meiner Neugier“, sagt Glasersfeld. Sartres „nausée“ ist eben nicht der „Ekel“, „mind“ nicht der „Geist“. Später wird er diese Erfahrung ausweiten: Auch innerhalb einer Sprachgruppe hat jeder seine Wirklichkeit, wenn einer „Ich liebe dich“ sagt, hat das für ihn nie dieselbe Bedeutung wie für die Person, die zuhört. Auch wenn zwei einen Wein aus derselben Flasche trinken würden, erklärt Glasersfeld, sei es nie derselbe Wein.

1936 geht er nach Wien, um Mathematik zu studieren (für die damals noch „Neue Freie“ „Presse“ schreibt er übrigens seinen ersten Artikel: Er handelt von seinen Erlebnissen als Schilehrer in Australien). „Damals trampelten schon die Studenten mit Militärstiefeln durch die Wiener Uni und sangen das Horst-Wessel-Lied.“ Also bleibt Glasersfeld lieber zuhause und liest: Wittgensteins „Tractatus“, Freuds „Traumdeutung“. „Darin steht, dass die Analyse eines Traums nur der Träumer selbst machen kann. Da habe ich mir gesagt: Das ist bei allem so. Wirklichkeit ist nicht möglich.“

Aber bis zu einer eigenen Theorie dauert es noch lang. Zunächst, für acht Jahre, wird er Farmer in Irland, wohin er 1938 mit seiner Frau vor den Nazis geflüchtet ist. Dort lernt er den ebenfalls aus Österreich emigrierten Erwin Schrödinger kennen – eine hübsche Anekdote: Jedes Jahr habe es in Dublin ein Treffen von Atomphysikern gegeben, die für die Alliierten arbeiteten, erzählt er. „Schrödinger hat meine Mutter gefragt, ob sie Leute kennt, die die Treffen auflockern könnten, deswegen gingen wir dann hin. Die waren nämlich furchtbar langweilig! Die Physiker waren so froh, wenn sie über etwas anderes reden konnten als Physik – aber ihre Ehefrauen haben nicht lockergelassen, sie haben immer Fragen gestellt und über den Nobelpreis reden wollen!“

„Kommunikation ist wie ein Krimi“

Nach einem biografischen Abstecher nach Südtirol und längerer Arbeit in Italien wird Glasersfeld schließlich in seinem fünften Lebensjahrzehnt in den USA heimisch, kehrt der Mathematik endgültig den Rücken und lehrt fortan in Georgia kognitive Psychologie. Unter dem Einfluss des Philosophen Silvio Ceccato, mit dem er in Mailand gearbeitet hat, vor allem aber des Entwicklungspsychologen Jean Piaget entwickelt er, was in den Neunzigerjahren als „radikaler Konstruktivismus“ bekannt wird.

Schade findet Glasersfeld, dass im Deutschen kaum zwischen „Wirklichkeit“ und „Realität“ unterschieden wird. „Vom konstruktivistischen Standpunkt aus ist Wirklichkeit, was wir uns aufbauen und mit der Wirklichkeit anderer koordinieren.“ Nur Annäherung sei möglich, ein unendlicher Prozess – „wie in einem Krimi: Erst glaubst du, der Gärtner ist der Mörder, dann erfährst du, dass er es nicht gewesen sein kann. Am Ende, im 14.Kapitel, bekommst du eine Lösung. Aber die gibt es nur, weil das 15.Kapitel noch nicht geschrieben ist.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.03.2007)

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