Geologie: Der Bergsturz, aus dem der Fernpass wurde

An der Uni Innsbruck wurde radiologisch datiert, wann der Berg in den Ostalpen zusammenbrach: vor 4150 Jahren.

„Wo heute der Fernpass ist, war früher einmal ein Tal“, berichtet Marc Ostermann (Geologie und Paläontologie der Uni Innsbruck): „Dann kam es zu einem riesengroßen Bergsturz mit einem Volumen von etwa tausend Kubikkilometer – der drittgrößte in den Ostalpen –, bei dem das Geröll eine Laufbahn von 16 Kilometern hatte. Dieser Bergsturz ist der heutige Fernpass.“ Aber wann und warum brach der Berg zusammen? Aufgezeichnet ist darüber nichts, in den Geschichtsbüchern gibt nur ein Datum einen groben Hinweis: Über einen Teil des Passes bauten die Römer die Via Claudia Alpina, sie begannen 46 v.Chr., der Bergsturz muss früher passiert sein.

Nicht am Ende der Eiszeit

Um wie viel früher? Lange war man sicher, dass dieser und andere große Bergstürze in den Alpen am Ende der Eiszeit passierten, als die Gletscher sich zurückzogen und das frei werdende Gestein keinen Außenhalt oder kein Widerlager mehr hatte, so vor 12.000 Jahren. „Das ist heute nicht mehr haltbar, unser Berg hat das Ende der Eiszeit überstanden.“ Darauf deuteten 1940 schon Pollenanalysen in den Sedimenten der vom Bergsturz eingestauten Seen: Kiefern und Fichten, ungefähr 2000 v.Chr. sei es gewesen. Auch die erste exakte Datierung kam ungewöhnlich früh: In den 60er Jahren wandte der Innsbrucker Geologe F. Mayr erstmals dafür die 14C-Methode an. Sie kann aus Kohlenstoffisotopen das Alter lesen, aber erst einmal braucht man datierbaren Kohlenstoff, Stein – auch Kalkstein – kann man so nicht datieren. Organisches Material natürlich schon, und die Felsen begruben viel Holz, auch in den Sedimenten sammelte es sich: So werden sie auf ein Alter von 4600 bis 3300 Jahren datiert.

Zu einer ähnlichen Datierung kam viel später eine zweite Methode, die den Gehalt der Gesteinsoberfläche an einem Chlor-Isotop misst, 36Cl. „Das entsteht in Kalzium- und Kalium-Karbonaten (aus 40Ca bzw. 39K), wenn sie in kosmische Strahlung geraten, und nur dann, es kann nicht anders entstehen“, erklärt Ostermann. Man kann also dem 36Cl-Gehalt ablesen, seit wann eine Oberfläche der Strahlung ausgesetzt ist. Sofern sie Strahlung ausgesetzt ist – schon ein abschattender Baum kann die Ergebnisse verzerren, und auch die Halbwertszeit von 36Cl ist erst seit Kurzem exakt bekannt. Ergebnisse gab es doch, vor 5300 bis 3300 Jahren sei es gewesen.

Weil das immer noch wenig präzise ist, haben Ostermann und sein Doktorvater Diethard Gerhard Sanders eine neue Datierung ersonnen und in einem FWF-Projekt am Fernpass getestet: die Thorium/Uran-Methode. Die geht davon aus, dass das Uran-Isotop 234U in einer bekannten Frist in das Thorium-Isotop 230Th zerfällt. Man kann also, wenn irgendwo am Anfang nur Uran da war, aus dem späteren Verhältnis von 234U/230Th das Alter ablesen. Aber wo kann am Anfang nur Uran da sein? Als der Berg in sich zusammen stürzte, muss das eine riesige Staubwolke erzeugt haben, die sich über das Gestein legte. „Beim ersten Regen wurde viel Karbonat gelöst, das über die Bergsturzlandschaft lief. Und an manchen Stellen, wo ein anderer Sauerstoff-Partialdruck herrschte – unter Gesteinsblöcken etwa –, fiel Kalzit aus, das wird fest wie Klebstoff oder Zement.“

Und in diese Kalzit-Matrix wird Uran aufgenommen, nicht aber Thorium. Das ist die Stunde Null – und vom heutigen 234U/230Th-Verhältnis kann man berechnen, wann sie war: Vor 4150 Jahren (plus/minus: 100). Warum ist der Berg gerade damals gestürzt, und was waren die Folgen? Ersteres ist halb geklärt: Der Berg war schon zerrüttet, unter ihm liegt eine tektonische Bruchzone, das Klima spielte auch mit, es gab mehr Niederschläge, sie brachten mehr Wasser in den Berg. Letzteres wird sich wohl nie klären lassen: „2000 vor Christus waren sicher schon Menschen oben“, glaubt Ostermann, „aber Spuren gibt es keine, das Bergsturzmaterial liegt im früheren Tal 300 bis 400 Meter hoch.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.04.2007)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.