Psychologie: Ekel, Vater der Moral?

EPA (Mario-Guzman)
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Das eigenartigste aller Gefühle ist doppelschneidig: Es schützt und kann mörderisch machen.

Würden Sie Affenfleisch essen? Oder würden Sie Ihre Lieblingsspeise auch dann essen, wenn eine – inzwischen entfernte – Fliege davon genascht hätte? Würden Sie sie gar essen, wenn sie in einem – peinlich sauberen – Nachtgeschirr serviert würde? Da sträuben sich die Haare, und ein Gefühl stellt sich ein, das es nur bei Menschen gibt: Ekel. Die Nase legt sich in Falten, die Kehle verkrampft, der Mund öffnet sich leicht, im Extremfall öffnet er sich weit und erbricht.

Natürlich spucken auch Tiere etwas aus, was ihnen nicht schmeckt – und damit anzeigt, dass es den Körper bedroht –, sie stellen aber keine Verbindung zwischen Nahrung und ihrer Vergangenheit oder Umgebung her, sie würden aus dem Nachtgeschirr schlürfen, kleine Kinder auch. Erwachsene tun es (ohne Not) nicht, quer durch die Kulturen. Zwar können die den Ekel überformen und ihm besondere Objekte zuweisen – in manchen ist Affenfleisch eine Delikatesse –, aber das Gefühl ist überall da, und es beschränkt sich nicht nur auf Nahrung: Wir urteilen auch über Abstraktes – politische Zustände etwa oder die Aussicht auf Klon-Menschen – aus dem Bauch heraus.

Herzfrequenz sinkt

Und zwar auf ganz eigene Art: Wenn wir uns ärgern, erhöht sich die Herzfrequenz, aber wenn wir uns ekeln, dann sinkt sie. Das gilt für den Ekel im engen Sinn, den vor bestimmter Nahrung oder Getier oder mangelnder Hygiene. Es gilt aber auch für den im weiteren Sinn, Jonathan Haidt, Psychologe an der University of Virginia, hat es gemessen: Er hat Testpersonen Videos vorgeführt, auf denen etwas zu sehen ist, was man nicht essen kann, was einem aber doch nicht schmeckt, zumindest den meisten nicht: eine Versammlung von US-Neonazis. Der Herzschlag der Zuseher sank, die Kehlen verkrampften sich, Haidt glaubt, „dass das der erste Beleg dafür ist, dass sozio-moralischer Ekel wirklich Ekel ist und nicht nur eine Metapher“ (Nature, 447, S.768).

Das deutet auf einen evolutionären Zusammenhang zwischen dem grobmateriellen Ekel und dem moralischen, und manche wollen im Ekel gar die Grundlage der Moral sehen, Leon Kass etwa, Bioethiker an der University of Chicago. Er leitete lange den Bioethik-Rat von Präsident Bush und trat vehement gegen die Forschung an embryonalen Stammzellen auf, bei der Embryos zerstört werden: „Flach sind die Seelen, die vergessen haben, wie einem schaudert.“

Das mag schon sein, aber es ist nur die eine Seite. Die andere zeigte sich, als Susan Finke und Lasana Harris, Psychologinnen in Princeton, mit bildgebenden Verfahren ins Gehirn sahen: Dort sahen sie beim materiellen und beim sozio-moralischen Ekel die gleichen Regionen aktiv – Bestätigung für Haidt –, aber sie hatten ihren Testpersonen keine Neonazis gezeigt, sondern Obdachlose. In den Betrachter-Gehirnen aktivierte das neben Furcht-Regionen auch die, die sich mit Objekten befassen – und nicht die, die für Soziales zuständig sind. „Wenn wir uns vor einem Obdachlosen ekeln, behandeln wir ihn nicht als Person“, erklärt Fiske, „sondern als Äquivalent eines Müllhaufens.“

Das tun wir nicht nur als Individuen, wir können auch soziale Einheiten damit definieren, auch hier hat die Evolution vermutlich (individuell) Bewährtes übernommen und ausgebaut: Wir halten unsere Reihen – Gruppen, Nationen etc. – im Extrem dadurch geschlossen, dass wir die anderen aus der Menschheit hinausdefinieren, als Gegenstände des altvertrauten materiellen Ekels. Etwa als „Kakerlaken“, die Nazi-Propaganda tat es, der Neonazi-Slang tut es. „So wie der materielle Ekel der Hüter des Körpers ist, ist der moralische Ekel der Hüter des sozialen Körpers“, schließt Haidt: „Dort zeigt der Ekel seine hässlichste Seite.“ Oder sollte man doch sagen: seine ekelhafteste?

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.06.2007)

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