Der Flüchtlingszug nach Europa überfordert Wien und Berlin und . . .

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Die geballte Masse macht den Unterschied: Die Politik Wiens steht auf dem Prüfstand - genauso wie jene Berlins, Brüssels und aller anderen Hauptstädte.

Heute also will sich die aus SPÖ und ÖVP zusammengezimmerte Regierung eine Entscheidung abringen. Eine Entscheidung, welche Wegkreuzung sie bei der Ausgestaltung des unmittelbaren Transitraums bei Spielfeld nimmt, an Österreichs Grenze zu Slowenien. Genauer gesagt suchen Innenministerin Johanna Mikl-Leitner und ihr Spiegelminister, wie er in der bizarren großkoalitionären Welt genannt wird, Gerald Klug, eine Entscheidung. Es lässt abgrundtief blicken, welchen Stellenwert dem Problem durch Bundeskanzler Werner Faymann und Vizekanzler Reinhold Mitterlehner eingeräumt wird.

Sie halten sich fein heraus. Vielleicht wissen die Koalitionsspitzen ja doch mehr, als die Öffentlichkeit ahnt. Beispielsweise, dass die EU-Angaben von drei Millionen Flüchtlingen, die bis Ende 2016 in Europa erwartet werden, haltlos übertrieben sind. Möglich auch, dass Werner Faymann und seiner SPÖ das Verhindern eines Zauns an der Grenze oder wenigstens die Verwendung dieses bösen Wortes doch nicht so wichtig ist, wie es zuletzt schien. Oder vielleicht macht Werner Faymann das Flüchtlingsthema nicht zur Chefsache, weil er in Wahrheit nicht Chef einer Koalition sein, sondern nur die Rolle spielen will. Gestützt werden könnte dieser Verdacht durch dessen Verhalten am Dienstag nach dem Ministerrat. Da wollte Faymann von einem Papier des Innenministeriums zu „baulichen Maßnahmen“ in und um Spielfeld partout nichts wissen. Das der SPÖ laut dem neben ihm stehenden ÖVP-Chef Mitterlehner schon am Freitag übergeben worden sein soll . . . Alles klar?

Überfordert, das ist jener Begriff, der sich angesichts des Verhaltens von Österreichs Politik in der Frage des Handlings des lang angekündigten und dennoch als überraschend empfundenen Flüchtlingsansturms aufdrängt. Die Überforderung betrifft, einmal mehr, einmal weniger, das gesamte Personal, beginnend, ja, doch, bei Bundespräsident Heinz Fischer. Er hat anders als sein deutscher Amtskollege, Joachim Gauck, zu lang deutliche Worte vermieden: dass das Land an der Grenze der Belastbarkeit stehe. Außerdem: Wenn ein Mann im Hintergrund die Fäden ziehen, für ein einigermaßen konzises Auftreten der Regierung nach außen unterstützend wirken könnte, dann Heinz Fischer. Die Überforderung endet bei der Opposition, die aus der Flüchtlingskrise entweder parteipolitisches Kleingeld zu lukrieren oder Ressentiments zu schüren gedenkt. Dass diese Überforderung in ganz anderer Weise längst für Einsatzkräfte und vor allem Hilfsorganisationen gilt, bei denen tausende Freiwillige Dienst tun, sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt.

Wie nun weiter? Zäune sind keine Lösung, wie nicht wenige meinen, darunter übrigens die österreichischen Bischöfe, die derzeit im Salzburger Kloster Michaelbeuern konferieren. Keine Zäune sind aber auch keine Lösung, wie wahrscheinlich mehr Österreicher meinen, nicht zuletzt jene, die laut Verfassung mit der Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung beauftragt sind. Tatsächlich, ein Grenzübertritt Abertausender Flüchtlinge, wie er ansatzweise rechtsstaatlichen Grunderfordernissen entspricht, wird ohne Teilabsperrungen, Barrieren, Zäune nicht auskommen – ein Vorgehen, wie es am Dienstag der kleine Nachbar Slowenien angekündigt hat.

Ge- oft auch überfordert ist natürlich die gesamte europäische Politik, das zeigt auch der Blick zum großen Nachbarn Deutschland, dessen Verhalten gegenüber Flüchtlingen in frappierender Anhänglichkeit von Österreich eins zu eins übernommen wird. Dort fehlt nicht nur in der Koalition oft die einheitliche Linie, dort ist zuletzt der Innenminister der Kanzlerpartei ohne Absprache mit Angela Merkel für Restriktionen beim Familiennachzug von Syrern eingetreten. Und über die bescheidene bis beschämende Rolle fast aller anderen europäischen Staaten wollen wir überhaupt schweigen.

Österreichs Regierung will also heute eine nicht unwichtige, aber nicht die wichtigste Wegkreuzung nehmen. Spät, aber nicht zu spät. Die Erleichterung, bei diesem Thema endlich einen Kompromiss gefunden zu haben, wird den Beteiligten ins Gesicht geschrieben sein. Nur: Viele andere Entscheidungen werden noch folgen müssen.

E-Mails an: dietmar.neuwirth@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.11.2015)

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