Zuflucht vor der Welt bei der Welt

„Ein Hinschauer sein, kein Zuschauer“: das Programm des Karl-Markus Gauß. Über sein sein Journal „Zu früh, zu spät“.

Karl-Markus Gauß schreibt viel. Und er schreibt über vieles. An die 20 Bücher müssen es mittlerweile sein, die er in den vergangenen 20 Jahren hervorgebracht hat, und rund 1500 Artikel obendrein.

Karl-Markus Gauß schreibt, man spürt es, mit Lust. Und mit Leidenschaft. Dass er zudem virtuos mit Sprache und Form umzugehen weiß, macht die Lektüre seiner Texte nur noch erfreulicher.

Über Gott und die Welt schreibt Gauß. In seinem Fall ist damit allerdings die Breite der Themen gemeint, auf die er seinen Blick richtet. Er mag in „Zu früh, zu spät. Zwei Jahre“ eindringlich über den Krieg gegen den Irak schreiben und einige Seiten weiter über Samenbanken und Baseballmützen, er mag sich klug über Amerika und Europa ausbreiten und nicht weniger klug über Trash, Schwangerschaftssimulatoren und Schönheitschirurgie – er schreibt im Grunde doch immer über das eine große Thema: über die Condition humaine zu einer bestimmten Zeit und an einem konkreten Ort – und was das Menschsein bedroht.

Von der Bedrohung spricht Gauß manchmal ganz explizit. Im Zusammenhang mit einem seiner Hauptthemen zum Beispiel, mit Europa, stellt er fest, „dass die größte Gefahr für Europa immer von Europa selber ausgegangen ist; und dass die europäische Zivilisation von nichts, auch nicht vom islamistischen Terrorismus so gefährdet wird wie von der Barbarei, die aus der Mitte des Kontinents wächst.“ Und weiter: „Nichts kann die Festung schützen, wenn der Barbar bereits in ihr sitzt und sich zum Festungskommandanten aufgeschwungen hat.“

Bloß an das Wahre, Gute und Schöne zu appellieren, das überlässt Karl-Markus Gauß unverbindlicheren Autoren. Bei ihm hat die Barbarei durchaus Name und Adresse. Gauß führt sie uns unter anderem in Gestalt von Silvio Berlusconi, George W. Bush oder Tony Blair vor. Oder aber in Form der „Geschäftseuropäer“. Gauß: „Die Union ist den Europäern von den Profiteuren eines grenzüberschreitenden sozialen Vandalismus weggenommen worden.“

Leitmotive: Europa, Vandalismus

Letzterer, der Vandalismus, begegnet uns in „Zu früh, zu spät. Zwei Jahre“ immer wieder. Er ist neben Europa ein weiteres Leitmotiv in den breitgefächerten Betrachtungen, manifest gewordene Barbarei sozusagen, die Barbarei des Alltags um uns. Nach einem Aufenthalt in Odessa notiert Gauß: „Der Vandalismus der Reichen privatisiert den öffentlichen Raum, der Vandalismus der Armen zerstört, was von ihm noch übrig geblieben ist.“ Daheim in Salzburg wiederum (und beileibe nicht nur dort) sieht er „Vandalen der Eventkultur“ am Werk, „die die Stadt mit rabiatem Klamauk zum Standort zuschleifen.“

Im Juli 2003 vermerkt Karl-Markus Gauß: „Ein Hinschauer sein, kein Zuschauer!“ Ein Hinschauer, das ist er jedenfalls, und meist führt ihn die genaue Betrachtung eines Details, eines Phänomens, zu einer Einsicht über das größere Ganze. Wie ein guter Fotograf macht er, schreibend, Dinge erst sichtbar, die wir zu kennen glaubten.

„Wie kann man sich über die Welt freuen, außer wenn man zu ihr flüchtet?“ Diesen tiefgründigen, vielschichtigen Satz von Franz Kafka hat Karl-Markus Gauß seinem Journal als eines von zwei Mottos vorangestellt. In der Tat begegnet man bei der Lektüre seiner Aufzeichnungen von Jänner 2003 bis Dezember 2004 in ihm, in Gauß, einer äußerst raren Spezies. Karl-Markus Gauß ist ein sinnlicher Intellektueller. Und weil er die Welt und die Menschen liebt, ist er in intensivem, bisweilen innigem Kontakt mit ihnen. In Svinia, der schlammigen, bitterarmen Roma-Siedlung in der Ostslowakei, die er in seinem Bestseller von 2004, „Die Hundeesser von Svinia“, eindringlich beschrieben hat, ebenso wie in Salzburg, im estnischen Narwa wie in Wien.

Überall und in allem begegnet Gauß dem vollen Leben in seinen unterschiedlichsten Ausprägungen, im Hässlichen wie im Schönen, und er begegnet ihm sowohl im realen Leben, im Wirtshaus, im Zug, am Flughafen, wie auch in seiner außerordentlich umfangreichen Lektüre. Was Gauß angesichts der Lektüre der Tagebücher des von ihm durchaus geschätzten Rudi Dutschke vermerkt, charakterisiert in der Umkehrung ihn selber: „Was Dutschke von der Welt, die er revolutionär erlösen wollte, alles nicht gesehen hat: die Welt in ihrer Fülle selbst. Kein Licht, keine Bäume, keine Bilder, nichts Sinnliches, nichts Schönes, weder Kunst noch Natur. Sein Tagebuch zeigt einen Menschen, der wie ohne Sinne durch die Welt geht.“ Das Journal von Karl-Markus Gauß dagegen zeigt einen, dessen Sinne weit offen sind.

Schreiben wider die Barbarei

Gauß ist das Gegenteil eines Misanthropen. Ein Geistesmensch, dem jegliche Beckmesserei fremd ist. Er ist ein Büchermensch par excellence, und doch zugleich in allem mitten drin in der Welt. Er ist außerordentlich belesen und ist sich dennoch nicht zu gut, auch Banales wie Talkshows im Fernsehen oder Notizen auf den Chronik-Seiten von Boulevardzeitungen zum Ausgangspunkt für bestechende Kulturdiagnosen zu nehmen, deren gelungenste selbst den Vergleich mit Theodor W. Adornos „Minima Moralia“ nicht zu scheuen bräuchten.

Überschreitung der literarischen Genres, breite Vielfalt der Themen, einige Dutzend an Menschen, deren Persönlichkeit, deren Wirken oder Werk betrachtet wird, polemisch spitz hier, zartfühlend empathisch da, mal sehr persönlich, dann wieder allgemein gültig, immer scharfsinnig – all das in einem Buch? Was verhindert, dass Gauß über dem (scheinbar) so Disparaten ins Schwadronieren gerät?

Seine formale Meisterschaft, sicherlich. Die sprachliche Kunstfertigkeit, mit der er sein Material zu fassen weiß, und mit der er auch Kompliziertes so zu formulieren vermag, dass es bei aller Komplexität lustvoll lesbar bleibt. Mehr noch ist es aber die Klarheit seines Standpunktes. In jedem Absatz, jedem Satz, jedem Wort von ihm klingt sie an. Immer schreibt Karl-Markus Gauß von der Würde des Menschen. Und stets wider die Barbarei. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.03.2007)

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