Wagner, ein Biedermeier-Bilderbogen

Salzburger Osterfestspiele. Bei Simon Rattles "Rheingold" erlebt der Besucher, wie schwer Opern-Handwerk ist.

Bei Preisen bis zu 490 Euro pro Ticket spielt man in Salzburg zu Ostern Oper. Nicht einmal exklusiv, sondern in einer Übernahme vom Festival in Aix en Provence gibt es im Großen Festspielhaus bis 2010 jährlich einen Teil von Wagners „Ring des Nibelungen“ zu sehen.

An diese außerordentlichen Umstände sollte man vielleicht erinnern, wenn man von einer ordentlichen Darbietung des „Rheingolds“ berichtet. Anders als Festspielgründer Herbert von Karajan, der die Kunst der Opernkapellmeisterei von der Pike auf gelernt hatte und mit seinem Osterfestspiel sozusagen auf die allerhöchste Spitze trieb, ist Simon Rattle, der Tausendsassa durchaus ein Opernneuling am Pult der Berliner Philharmoniker. Diese wiederum sind kein Theaterorchester, sondern kamen zu österlichen Festspielehren, weil die Wiener Kollegen damals noch nicht zu jeder Saison außerhalb Wiens aufspielten, sondern die Staatsoper noch als Zentrum ihrer künstlerischen Aktivitäten betrachteten. Für Karajan bedeutete das einen beträchtlichen Mehraufwand. Denn ein Orchester, das Brahms-Symphonien und Strawinsky-Ballettmusiken exquisit zum Klingen bringt, weiß noch nicht, was es bedeutet, während des Tauchmanövers dreier Rheintöchter und eines Zwergs gleichmäßig notierte Sechzehnteltriolen anschmiegsam anzupassen an gar nicht so gleichmäßig, sondern textbedingt freier fließende Sopran-Wellenlinien oder Bariton-Wehklagen.

Karajan konnte kraft Wissens, Gespürs und suggestiver Gebärdensprache seinen Musikern einst die rechte Musiktheater-Eloquenz vermitteln. Rattle, man spürt es, muss sie sich selbst erst erarbeiten. So genießt der Festspielbesucher nicht die Früchte des virtuosen Dompteurs-Akts eines bedeutenden Dirigenten, der seine Idealvorstellungen unter etwas erschwerten Bedingungen in die Tat umsetzt. Er ist vielmehr Zeuge eines gigantischen Arbeitsprozesses, erlebt hautnah, wie schwer das Opern-Handwerk sein kann.

Dabei zu sein fasziniert, denn Rattle hat seine ganz eigenen Vorstellungen auch von Richard Wagners Klangwelt. Im „Rheingold“ spürt er noch im entlegensten Dramenwinkel Möglichkeiten für seinen stets amüsiert-hintergründigen Interpretations-Zugang auf. Als idealer Musikdarsteller der Spaßgesellschaft sorgt er für den „Fun-Faktor“ auch während des „Ring“-Vorabends. Das sinnliche Klang-Erlebnis macht es möglich, das Wagner mit seiner vielschichtig aufgefächerten Partitur suggeriert.

Die Berliner Philharmoniker dürfen schwelgen. Wenige „Rheingold“-Aufführungen lassen so viele liebevoll gedrechselte, kuriose, elegante, witzige, sonore, manchmal einfach schöne Details hören. Solistische Einzelleistungen der Bläser, die herrlich abgestimmten Legato-Bögen der Streicher, das Tosen und Dröhnen der Schlagzeugeffekte – das alles fügt sich zum Kaleidoskop von Farben und Formen, das bunt sprühende Lebensfreude vermittelt wie ein musikalischer


Bilderbogen Marke de Falla oder Respighi: Zweieinhalb Stunden singulärer Leistungsschau eines exzellenten Orchesters.

Als hätte Simon Rattle Nietzsches „Fröhliche Wissenschaft“ gelesen und wollte demonstrieren, was der Philosoph gemeint hat, wenn er Wagner als „Meister des ganz Kleinen“ denunziert. Seine „eigentlichen Meisterstücke“, dekretiert Nietzsche, seien „alle ganz kurz, oft nur einen Takt lang – da erst wird er ganz gut, groß und vollkommen“.

Auch Regisseur Stephane Braunschweig will von der gigantischen Assoziations- und Bilderwelt des „Rings“ nichts wissen. Sein „Rheingold“ träumt Wotan, gefangen in einem kahlen Raum, durch dessen einziges, hoch droben befindlichen Fenster zuletzt die Rheintöchter herein grüßen wie Heiderl, Hederl und Hannerl im „Dreimäderlhaus“. Biedermeierliche Standbilder reiht Braunschweig aneinander, die sich jeglicher Größe, jeglicher Natur-Mystik oder ahnungsvoller Mythos-Exegese entschlagen. Allzu märchenhafte Vorgaben werden gänzlich geleugnet: Statt der schwitzenden, mit schwieliger Hand Felsen versetzenden Riesen erscheinen zwei Softie-Manager mit Aktenkoffern. Minutenlang passiert in dieser Inszenierung zwischen dieserart harmlos gestellten Bildern gar nichts.

Das ist die perfekte optische Entsprechung zur musikalischen Deutung, die mangels Text-Verständnis in sich zusammenbricht, wo sich die schönen akustischen Veduten zum zwingenden dramatischen Fluss binden sollten. In den Parlando-Szenen zwischen Wotan, Alberich und Loge in Nibelheim stehen einzelne Akkorde unverbunden nebeneinander, die dank ihrer dramaturgischen Funktion im großen Zusammenhang vor Spannung beinah bersten müssten.

Den Sängern ist es kein Leichtes, in solchem Umfeld dramatisch glaubwürdige Leistungen zu bringen. Manchen würde es wohl auch in operngerechterem Ambiente kaum gelingen. Am wenigsten wohl dem eindimensionalen, mehrheitlich unverständlich nuschelnden Wotan Willard Whites, oder dem nur in den karikativen Passagen vokal präsenten Loge Robert Gambills.

Manch schöne Stimme ist freilich zu hören, die Fricka Lilli Paasikivis, Annette Daschs heller Freia-Sopran, der lyrisch-verliebte Fasolt Iain Patersons oder der Donner von Detlef Roth, der mehr noch als alle andern agiert, als ginge es um einen Schubert-Liederabend. Rattles Biedermeier-Stil setzt sich, technisch bewundernswert perfektioniert, mit dem gut konzertierten Rheintöchter-Terzett (Sarah Fox, Victoria Simmonds und Jekaterina Gubanova) fort: Jeden Moment könnten da bruchlos auch Brahmsens „Liebeslieder-Walzer“ anheben, würde nicht Dale Duesings Alberich gegensteuern. Er gibt sich – als einziger lebendig agierend – zumindest den Anschein des „garstigen, frevelnden Gauchs“, wie er in Wagners Textbuch steht.

Vokal exzellent und an diesem Abend einzigartig wortdeutlich ist der kurze Auftritt Burkhard Ulrichs als Mime, klangschön beschwört Anna Larsson als Erda das Götter-Ende, schwächlich tönt der Fafner Alfred Reiters, wacker schlägt sich Joseph Kaiser durch die undankbaren Phrasen des Froh. Eine Regenbogenbrücke darf er nicht herbeizaubern in dieser grauen Produktion, die nicht einmal aus Videoprojektionen optisches Kapital schlägt. Statt nach Walhall zu ziehen, laufen die Götter nämlich gegen die Gefängnis-Wand. Womit sich dieser Salzburger „Ring“bereits am „Vorabend“ totgelaufen hätteWie er trotzdem weitergehen wird, ist demnächst bei der „Walküre“ in Aix zu studieren.

Berliner Philharmoniker im Sucher S. 31

Inline Flex[Faktbox] SALZBURG.Rattles „Ring“("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.04.2007)

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