Wilhelm Reich: „Befreien Sie mich von Reich!“

Die Presse (Archiv)
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Geschichte. Vor 50 Jahren starb der Mann, der sexuelle und soziale Revolution einen wollte.

Am Ende steht ein alter Mann – zumindest sieht er so aus, er ist noch keine 60 – auf der Veranda einer Farm in den USA, in den Händen ein Gewehr, den Grund zeigt die Kamera mit einem Schwenk auf die Wiesen: überall Polizei. Er gibt auf, kommt ins Gefängnis – dessen Arzt diagnostiziert „Paranoia“ –, stirbt dort etwas über ein Jahr später, am 3.November1957.

Am Anfang war alles anders, da therapierte Wilhelm Reich so erfolgreich, dass er schon als 23-Jähriger in Wien Patienten hatte und in die Psychoanalytische Vereinigung aufgenommen wurde. Aufgewachsen war der 1897 Geborene bei Cernowitz, als Kind lebte er auf einem Bauernhof und wurde so, wie er sich erinnerte, mit den „natürlichen Lebensfunktionen“ vertraut. Die fand er in Wien wieder, in einem Seminar über Sexualität wurde der Jura- und Medizinstudent auf Freud aufmerksam. Bald rückte er, stärker als der Freud dieser Zeit selbst, die Sexualität ins Zentrum der Psychoanalyse: „Der Patient muss durch die Analyse zu einem geordneten und befriedigten Sexualleben kommen.“

Das Soziale macht krank...

Das ist ein Kernsatz aus der „Charakteranalyse“ (1933), dem zentralen Werk. Darin versuchte er, die Psychoanalyse weiterzutreiben, in ihrer Technik und ihrem sozialen Agieren. Technisch rückte für ihn die Analyse des ganzen Charakters ins Zentrum, und er wollte den Charakter auch nicht von der Umwelt isolieren. Für ihn war die Krankheit kein privates, sondern ein soziales Problem: „Die charakterliche Struktur ist erstarrter soziologischer Prozess einer Epoche“ („Charakteranalyse“). Im Detail hat er es oft ausgeführt: Die gesellschaftlichen Autoritäten – Familie, Staat, Kirche – stehen der Gesundung entgegen, sie müssen bekämpft werden: „Die Wissenschaft vom Geschlechtsleben der Menschen ist an sich politisch, ob sie will oder nicht, daher muss sie die Konsequenz ziehen und sich zu ihrer politischen Natur bekennen.“

Das schrieb er später, 1936 in einer „Grußbotschaft an Freud“, er hatte seine Schlachten längst verloren. Weil er die Heilung der Patienten nur in der Revolution sah, trat er 1930 – in Berlin, er war übersiedelt – in die Kommunistische Partei ein, war aber dort bald ebenso unwillkommen wie bei den Analytikern. Die Kommunisten wollten die soziale Revolution – nicht die sexuelle –, die Analytiker wollten überhaupt keine, 1933 wurde Reich aus der KP und aus der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung ausgeschlossen, 1934 auch aus der Internationalen, die Umstände sind ungeklärt, die Rolle Freuds ist es auch. „Befreien Sie mich von Reich“, bat er am 17.4.1933 Felix Boehm, den designierten Vorsitzenden der Deutschen Vereinigung – oder war es ein Befehl? –, ansonsten kommt der ungeliebte Schüler im Werk des Meisters nicht vor.

Reich bäumt sich auf, rechnet in der „Massenpsychologie des Faschismus“ (1933) mit der Linken und der amtlichen Psychoanalyse ab: Beide hatten für ihn sträflich übersehen, wie geschickt die Nazipropaganda die Triebenergien (vor allem der Kleinbürger) auf ihre Mühlen zu lenken verstand.

1936 der letzte Versuch, die „Grußbotschaft“ – zu Freuds 80. –, ohne ein Wort des Grußes. Er reklamiert das Erbe, er ist als Einziger treu: „Alle bisherigen Abzweigungen von der Lehre Freuds kennzeichnen sich durch Verleugnung der Sexualität. Für Jung wurde die Libido ein Allseelenbegriff, Adler ersetzte sie durch den Willen zur Macht (...). Die Sexualökonomie hingegen“ – Reich – „knüpfte an den Kernelementen der Freudschen Lehre an, die ursprünglich die Wut der Welt entfacht hatten“. Freud hatte der Wut nicht standgehalten, er würde es tun.

...Natur soll heilen

Der Rest ist Wahnsinn: Reich hatte keine Verbündeten in der Gesellschaft mehr, er fand sich einen stärkeren, die Natur. 1934 emigrierte er, erst nach Skandinavien, er experimentierte mit Bakterien und sah in ihnen eine neue Form der Energie, in Anlehnung an den Orgasmus nannte er sie „Orgon“. Später, in den USA, sichtete er dieselbe Energie in der Bläue des Himmels, man konnte sie sammeln – und Krebs damit bekämpfen –, in „Orgon-Akkumulatoren“, Faraday'schen Käfigen mit abgedichteten Wänden, groß genug für einen Menschen, viele nahmen darin Platz, Norman Mailer etwa. –Noch einer nahm Reich zumindest so ernst, dass er ihn ins Labor lud: 1941 fuhr Reich nach Princeton, zu Einstein, im Gepäck ein Orgon-Akkumulator. Die beiden testeten das Gerät und sahen einen Effekt – Wärme –, aber ein Assistent Einsteins fand die Quelle, es lag an der Temperatur im Raum.

Für Einstein war die Sache erledigt, für Reich nicht: Er verflachte die Dialektik Natur/Soziales zum Gegenspiel einer guten und einer bösen Energie, die nannte er Dorgon („deadly orgon“), sie wurde von Ufos verschossen, er konstruierte eine Abwehrkanone („cloud buster“). Dann kam die Polizei, im Auftrag der Gesundheitsbehörde, ihr gefielen die Akkumulatoren nicht, Reichs Schriften wurden verbrannt (und erst im Zuge der 68er-Bewegung wieder entdeckt).

Eine Unbekannte soll es noch geben: Reich hat sie bei seinem Anwalt hinterlegt, sie sei der Menschheit erst 50 Jahre nach seinem Tod zuzumuten. Also morgen.

REICH: Leben & Werk

24.3.1897 bis 3.11.1957. Zentral: „Charakteranalyse“, „Massenpsychologie des Faschismus“. Viele Gedenkfeiern: www.wilhelmreich.at

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.11.2007)

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