Für die Medizin ins Massengrab

Die Presse (Fabry)
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Anatomie. Fast 500 Menschen lassen sich jedes Jahr anonym bestatten – freiwillig. Ohne Begräbnis, ohne eigenes Grab. Sie spenden ihre Körper der Medizin.

WIEN. „In großer Dankbarkeit. Ihre Medizin-Studierenden“, steht auf der Schleife eines Kranzes. Dahinter eine Grabstelle, in der 16.740 Menschen bestattet sind. Jedes Jahr kommen bis zu 500 dazu. Sie entscheiden sich freiwillig, anonym in dem Massengrab am Wiener Zentralfriedhof beerdigt zu werden. Als Körperspender für das Anatomische Institut der Wiener Medizin-Uni.

Mehr als ein Jahr sezieren dort Studenten die Körper, um an ihnen die menschliche Anatomie kennen zu lernen. Die Reste werden verbrannt und beigesetzt – formlos. Nur einmal im Jahr, um Allerheiligen, gedenkt man der Spender. Die Luegerkirche ist dann bis auf den letzten Platz gefüllt, an den zwei Massengräbern der Anatomie werden Kränze niedergelegt. In einer Rede dankt Anatomie-Professor Johann Wilde den Angehörigen. Und: Nur durch Körperspenden sei die Anatomie als Grundlage der Medizin möglich. „Am Schwierigsten ist es für die Familien“, erzählt er, „da es kein Begräbnis gibt.“

Um seinen Körper zu spenden, muss man nur ein Formular ausfüllen. Geld verdienen lässt sich damit nicht – auch wenn das Gerücht noch immer umgeht. Im Gegenteil: Als Beteiligung am Leichentransport müssen die Spender 450 Euro bezahlen.

Die Motive zur Körperspende sind unterschiedlich. Manche machen es aus Idealismus, andere haben keine Angehörigen. „Die Begräbniskosten sind sicher nicht unwesentlich. Einige meinen auch, ihre Krankheiten seien interessant für die Forschung“, sagt Wilde. Die Spender kommen aus allen sozialen Schichten, sie sind meist älter als 70. „Ich erinnere mich nur an einen 25-Jährigen, der sich vor seinem Selbstmord vermacht hat.“ Stirbt ein Spender, wird er der Anatomie überstellt und präpariert.

Keine Rückgabe an Angehörige

Über die Oberschenkelschlagader werden dann 20 Liter Formalin-Lösung in den Körper gepumpt, anschließend kommt er für sechs Monate in ein Formalin-Bad. Dann wird „vom Scheitel bis zur Sohle“ (Wilde) seziert. Zuerst wird die Haut abgetragen, dann Fettschicht, Sehnen und Muskeln. Schließlich werden die Organe geöffnet.

„Natürlich ist man beim ersten Mal aufgeregt“, sagt Student Johannes Forster. Hemmungen, einen Toten zu sezieren, habe er aber nicht. Gefühle sind ebenso fehl am Platz: „Man kann nicht um jeden trauern.“ Als Professor Wilde 1966 sein Studium begonnen hat, habe man noch Armenleichen seziert, erzählt er. Seit dem Mittelalter war das gängige Praxis. Im Wiener Institut waren Ende der 1960er nicht mehr genug Tote vorhanden, also rief der damalige Chef der Anatomie zur Körperspende auf. Seither gibt es keinen Mangel mehr. Im Gegenteil: „2003 waren wir voll bis unters Dach und konnten anderthalb Jahre keine Körper annehmen“, erzählt Wilde.

Rund 20.000 Menschen wurden in den beiden Massengräbern der Anatomie seit 1968 bestattet. Seit Bodenproben ergeben haben, dass die Leichenteile durch die Konservierung mit Formalin nicht verwesen, werden sie verbrannt und in Sammelurnen beigesetzt. Die Rückgabe der Asche an die Familie sei nicht möglich, da durch die monatelange Arbeit immer wieder „Material“ mehrerer Leichen anfalle, das man „pietätvoll entsorgen“ müsse, sagt Wilde. Um das 6500 Quadratmeter große neue Grab, in dem die Anatomie-Leichen seit 1975 bestattet werden, haben Angehörige Kreuze und Gedenktafeln aufgestellt. Wilde sieht das nicht gerne: „Das Grab ist anonym und soll anonym bleiben.“

2008 wird um das Areal eine Mauer gebaut, in die Namen graviert werden können. „Gut, dass etwas unternommen wird. Die Leute marschieren über den Rasen, als wäre es ein Spielplatz“, ereifert sich eine Frau. Wie ihr verstorbener Ehemann hat sich die 72-Jährige der Anatomie vermacht. Ob es sie störe, dass sie einmal in einem Massengrab bestattet wird? „Nein. So kann ich nach dem Tod noch etwas Sinnvolles tun.“

ANATOMIE

Wie spenden? Interessierte können sich am Anatomischen Institut der Universität Wien (Währingerstraße 13, 1090 Wien; ?01/ 4277 61101) informieren und Formulare anfordern. Die Spende kostet 450 Euro.

www.univie.ac.at/anatomie("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.10.2007)

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