Neue Fluchtwelle aus Libyen

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ITALY-IMMIGRATION-REFUGEE-RESCUE-SEA-Object-name ITALY-MIGRANTS-APA/AFP/GIOVANNI ISOLINO
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Nach dem EU/Türkei-Deal wird sich das Flüchtlingsdrama wieder auf die Italien-Route über Libyen verlagern. Dort warten laut Pariser Regierung bereits 800.000 Menschen.

Kairo. Die ägyptischen und libyschen Schlepper reiben sich die Hände. Seit vergangenem September lag ihr Flüchtlingsgeschäft am Boden. Nach dem EU-Gipfel mit der Türkei aber hoffen sie wieder auf goldene Zeiten. Die Balkanroute ist blockiert, auf der sich in den letzten sechs Monaten Hunderttausende gen Norden durchschlugen. Bald jedoch könnten sich wieder Zehntausende Syrer, Iraker und Afghanen auf die Facebook-Annoncen aus Nordafrika melden, mit denen örtliche Menschenschmuggler ihre Boottrips nach Lampedusa anpreisen. In Ägypten geht es meist in der Region um Alexandria an Bord und zunächst an der Küste entlang bis nach Libyen. Dort werden die Flüchtlinge in größere Kähne umgeladen, die sie dann nach Italien bringen sollen. In Libyen selbst schieben die Schlepper die voll besetzten Schlauchboote inzwischen nur noch vom Strand aus über die Zwölf-Meilen-Grenze in internationale Gewässer.

Dann setzen sie bei den Schiffen der Nato-Operation Sophia einen Notruf ab, damit deren Besatzungen die Menschen aus dem Mittelmeer fischen. „Das ist mittlerweile eine wohlorganisierte Übergabe“, bilanzierte bitter ein europäischer Diplomat. Allein in der vergangenen Woche nahmen deutsche und italienische Kriegsschiffe 3100 Schiffbrüchige an Bord. Viele ihrer Boote hatten nicht einmal genug Treibstoff für die gesamte Überfahrt. Westliche Geheimdienste schätzen, dass momentan 150.000 bis 200.000 Fluchtwillige in Libyen warten.

Schlepper wählen schwierigere Routen

Nach Angaben des französischen Innenministers, Jean-Yves Le Drian, liegen die Zahlen viel höher: Am Donnerstag sprach der Ressortchef zunächst von Hunderttausenden in Libyen Gestrandeten, um dann die Zahl 800.000 als „in etwa angemessen“ zu bezeichnen. Vergangene Woche hatte EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini von 500.000 Vertriebenen gesprochen, die von der libyschen Küste aus flüchten könnten.

„Migranten wollen nach wie vor in die EU, und das organisierte Verbrechen wird ihnen jetzt andere Routen anbieten“, erläutert Wil van Gemert, Vizechef von Europol. Anders als bisher würden die Schmuggler in Zukunft wohl verdeckter operieren und schwierigere Routen benutzen. Über die Italien-Route kamen seit Beginn des Jahres bislang 12.000 Flüchtlinge, während in der Ägäis gleichzeitig 143.000 Menschen übersetzten. Doch nach dem Stopp zwischen der Türkei und Griechenland werden sich die Verhältnisse – wie vor dem September 2015 – wohl wieder umdrehen. „Es besteht das Risiko, dass die Flüchtlingswelle zwei- bis dreimal höher ausfällt als bisher“, warnte kürzlich Ägyptens Präsident, Abdel Fatah al-Sisi.

Und so befürchten EU-Diplomaten, dass nun auch der Machthaber am Nil, angestachelt durch das Beispiel seines türkischen Intimfeindes Recep Tayyip Erdoğan, das heraufziehende Flüchtlingsdrama vor seiner und Libyens Küste für Milliardenhilfen aus Brüssel nutzen könnte. Behält al-Sisi mit seinen Prognosen recht, könnten heuer 300.000 bis 450.000 Menschen allein auf Lampedusa stranden.

Einheitsregierung wäre „Dringlichkeit“

Um diesen massenhaften Menschenschmuggel einzudämmen, würde die Nato gern auch in den nationalen Gewässern Libyens operieren, also die Phase Sophia 2b aktivieren, wie es im internen Jargon heißt. Das jedoch geht nur, wenn eine libysche Gesamtregierung dies erlaubt, die bisher nur auf dem Papier existiert. Le Drian mahnte, die „dringlichste Dringlichkeit“ sei die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit.

Alle Versuche der Vereinten Nationen und ihres Vermittlers Martin Kobler, das in Tunis ansässige Schattenkabinett der Nationalen Einheit unter Premier Fayez al-Sarraj nach Tripolis zu transferieren, sind bisher allerdings gescheitert. Das eine Parlament in Tobruk warnte die internationale Gemeinschaft davor, Libyen „diese Regierung der nationalen Einheit aufzuzwingen“. Das andere Parlament in Tripolis sprach von einer von außen oktroyierten Regierung, die „in der Hauptstadt nicht willkommen ist und keinen Platz in unserer Mitte hat“. Entsprechend düster fällt das Urteil des spanischen Premierministers, Mariano Rajoy, aus. Libyens Regierung habe nicht die Unterstützung der Parlamente, kriminelle Mafiabanden organisierten den Flüchtlingsschmuggel, und die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) dehne sich immer weiter aus, bilanzierte er.

Nach den jüngsten Erkenntnissen der Vereinten Nationen stoßen die Gotteskrieger in Libyen jetzt auch nach Süden in Richtung der Subsahara-Staaten Niger und Tschad vor und könnten sich bald mit der IS-Filiale von Boko Haram in Nigeria koordinieren. Innerhalb nur eines Jahres stieg ihre Zahl von wenigen Hundert auf mehr als 5000. Rund um die ehemalige Gaddafi-Geburtsstadt, Sirte, kontrollieren sie mittlerweile einen 300 Kilometer langen Küstenstreifen. Ihre Regierung gilt als die einzige im Land, die tatsächlich funktioniert. „Wir werden jeden Tag stärker“, prahlte IS-Kommandeur Abdul Qadr al-Najdi und nannte Libyen die „Vorhut des Islamischen Kalifats“. Und so wächst in Washington und den europäischen Hauptstädten die Sorge, dass sich die IS-Präsenz in dem zerfallenen Post-Gaddafi-Reich zu einer massiven Dauerbedrohung für das Mittelmeer auswachsen könnte.

AUF EINEN BLICK

In Libyen warten rund 800.000 Migranten auf die Weiterreise nach Europa. Das erklärte der französische Innenminister, Jean-Yves Le Drian, am Donnerstag vor Journalisten in Paris. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini sprach vergangene Woche noch von 500.000 Vertriebenen, die von Libyen aus über das Mittelmeer nach Europa flüchten könnten. Die „dringlichste Dringlichkeit“ in Libyen sei nun die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit, appellierte Le Drian. Seit Monaten wird bereits darum gerungen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.03.2016)

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