Interview: „Wer einstürzt, kann nicht mehr helfen“

Nächstenliebe erst an zweiter Stelle: Philosoph Jörg Splett über Christentum und (Sozial-)Politik.

Die Presse: Auf die Frage des Judas „Warum hat man dieses Öl nicht verkauft und den Erlös den Armen gegeben?“ antwortet Jesus: „Die Armen habt ihr immer bei euch, mich habt ihr nicht immer bei euch.“ Hat das Christentum ein ambivalentes Verhältnis zu Armut und Armutsbekämpfung?

Jörg Splett: Ich finde es sehr klar. Jesus hat am See Genezareth nur einen Einzigen gesund gemacht, als Zeichen – verkündet aber hat er an alle. Und als im Lukas-Evangelium der Gelähmte durchs Dach kommt, sagt Jesus zu ihm: „Deine Sünden sind dir vergeben“. Heilen tut er ihn nur noch so nebenbei. In der Apostelgeschichte sagen dann die Apostel: Wir sind in erster Linie für die Verkündigung da, wir können uns nicht ebenso intensiv um die Witwen und Waisen kümmern – deshalb wird dann das Diakonat eingeführt.

Und das ist zweitrangig?

Splett: An erster Stelle steht das Verhältnis zu Gott. Gott lieben, mit ganzem Herzen, mit ganzer Kraft, ist das erste Gebot. Dieses Mit-allen-Kräften findet man nicht mehr im zweiten Gebot – „Liebe den anderen so wie dich selbst“, im Urtext eigentlich „Sei dem anderen so gut wie dir“. Manche meinen, weil etwas an zweiter Stelle steht, wird es verachtet. Jesus sagt auch, reiß dir notfalls ein Aug aus, um deine Seele zu retten, deswegen ist das Christentum noch lang nicht leibfeindlich. Zweite Stelle ist zweite Stelle.

Kürzlich warnte der Vatikan vor den Schriften des Befreiungstheologen Jon Sobrino. Einige sehen das als programmatisches Signal.

Splett: Es kommt mir schon so vor, und ich glaube, es hat auch mit dem neuen Papst zu tun. Man merkt das in seiner Enzyklika über die Liebe. Der zweite Teil handelt zwar von der Caritas, aber man spürt, das Herzblut ist im ersten Teil, wo es um die eigentlichen Prinzipien der Liebe geht; nicht abstrakt, sondern warm. Zwischen den Zeilen sagt der Papst, wenn du das auf dich wirken lässt, wirst du schon wissen, was du zu tun hast. Aber es gibt eine Besinnung auf die Spiritualität, die Vertikale. Auch die Phase, dass sich Priester vor allem als Sozialarbeiter, Missionare nur als Entwicklungshelfer verstanden, scheint vorbei.

Nur ... Ist das nicht schon sehr viel?

Splett: Es ist schon richtig so, wenn zeitweise das gesellschaftliche Engagement an erste Stelle rückt, auch in der Mission. Ich glaube ja, dass Unglück und Not den Menschen auf sich selbst zentrieren, das ist auch ein Grund, warum Jesus Menschen geheilt hat. Aber jetzt kreist also schon der Kranke um sich und der Therapeut um den Kranken – da soll die Theologie nochmals um den Kranken und den Therapeuten kreisen? Es ist nicht zufällig eine wichtige Form der Therapie, den Kranken momentlang nicht an sich selbst, sondern an jemand anderen denken zu lassen.

Die Arbeiterpriester-Bewegung in Europa wurde 1959 verboten, das Verhältnis zur Befreiungstheologie ist gespannt – was fürchtet die Kirche an diesen politisch engagierten Bewegungen?

Splett: Die Gefahr, die irdische Befreiung in den Mittelpunkt zu stellen. Das ist wie mit dem Spruch über dem Sofa: „Ab morgen wird gearbeitet!“. Wenn man sagt, erstmal müssen wir das und das in Ordnung bringen, gibt es am Ende immer Dringlicheres als Gebet oder Sonntagfeiern. Die andere Gefahr: Wenn ich selbst ins Eis einbreche, kann ich dem anderen nicht helfen. Mutter Teresa bestand darauf, dass ihre Schwestern jeden Morgen eine Stunde Anbetung machten. Jesus geht auch in den Nächten auf den Berg und betet, daraus lebt er. Diese Seite kommt in der Selbstdarstellung der Kirche heute zu kurz.

Vielleicht auch, weil man seit der Aufklärung dazu neigt, den sozialen Nutzen als einzige Existenzberechtigung für Religion zu sehen.

Splett: Ja, wobei das „Was nützt es“ ein breiteres Phänomen ist. So sagen wir in unseren Beziehungen, der Kunst, den Wissenschaften. Urs Balthasar schrieb schon in den 50er-Jahren, dass wir in einer Zeit leben, in der sich nichts lohnt außer dem Menschen, andererseits gibt es ein Bewusstsein: Der Mensch lohnt sich eigentlich auch nicht! Wenn ich sage, der Mensch ist dem Menschen das Höchste, gehe ich darum wirklich richtig um mit ihm?

Kann man nicht genauso über Gott den Menschen vergessen?

Splett: Natürlich. Meister Eckhart hat einmal gesagt, wenn man in mystischer Entrückung ist und es kommt einer und bittet um eine Suppe, was macht man? Man muss sie ihm geben! Aber ich kenne nur wenige, die die Menschen zu wenig lieben, weil sie Gott lieben. Die realere Gefahr ist, über den Menschen Gott zu vergessen. Schon weil er so diskret ist.

Ähnliches wirft die Glaubenskongregation Jon Sobrino vor, wenn sie sagt, er vernachlässige über dem Menschen Jesus dessen göttliche Natur.

Splett: Ja – wobei man fragen muss: Wie steht's überhaupt mit der Anerkennung des Gottseins Jesus bei den Theologen heute? Jesus ist groß, er ist schrecklich wichtig, sagen sie – aber „Gott von Gott“? Frühere Zeiten haben das Menschsein Jesu ganz im Goldglanz verschwinden lassen, dass er zum Beispiel ernsthaft versucht worden ist, wurde völlig unter den Tisch gekehrt. Kein Wunder, dass man jetzt im anderen Straßengraben liegt. Man hat auch lang von der „Proexistenz“ Jesu geredet und meinte damit den Menschen, obwohl Jesus in erster Linie für Gott da ist. Aus Liebe zum Vater will er ihm seine Geschöpfe zurückgewinnen. Das ist wie mit den Eheleuten, die zueinander Papa und Mama sagen, ich finde das nicht gut. Zuallererst sind sie Eheleute, das andere folgt erst daraus.

Von der christlichen Soziallehre hört man in Europa nur noch wenig ...

Splett: Es ist stiller geworden, aber Spannungen gibt es nach wie vor, zumindest in Deutschland. Es gibt auch die Kritik, die christliche Soziallehre sei zu kapitalistenfreundlich geworden.

Brauchen Kirchen Macht, um politisch etwas zu bewirken? Dem Papsttum als moralischer Instanz scheint der Machtverlust gut zu tun.

Splett: Man wird zwar als moralische Autorität akzeptiert, kann sie aber nicht mehr durchsetzen. Als die Kirchen noch mächtig waren, haben sie zwar auch Unrecht begangen, konnten sich aber andererseits viel besser um die Menschen sorgen. In Deutschland diskutiert man die Abschaffung der Kirchensteuer, manche meinen, dann wird die Kirche ganz lieb und nett. Aber man braucht nur zu schauen, was in Frankreich passiert ist – was hilft es, wenn die Kirche dann vom reichsten Bauern abhängig ist! Die Romantik der Machtlosigkeit halte ich nicht für richtig.

Inline Flex[Faktbox]("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.04.2007)

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