Berger: „Wofür soll der Staat zuständig sein?“

Die Presse (Clemens Fabry)
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Interview. Berater Roland Berger plädiert für weniger Krankenkassen, aber mehr Bürgerverantwortung.

Die Presse: Sie haben kürzlich Ihren 70. Geburtstag gefeiert. Warum tun Sie sich gerade jetzt den unmöglichsten Job Europas an – nämlich die EU-Bürokratie zu bekämpfen?

Roland Berger: Ich möchte sicher auch mit 80 Jahren noch aktiv sein und einen Beitrag zum Fortschritt unserer Gesellschaft leisten. Den Abbau von Bürokratie halte ich dabei für sehr wichtig. Sie verursacht immense Kosten für die Bürger und Unternehmen. Und sie schränkt unsere Flexibilität ein, also die Voraussetzung, unseren Wohlstand in einer sich schnell ändernden Welt zu erhalten. Ganz ohne Bürokratie geht es zwar nicht, denn jede Gesellschaft braucht Regeln. Aber das Ausmaß ist entscheidend.

Was tun Sie konkret in Brüssel?

Berger: Es gibt 13 Gebiete wie Gesellschafts- oder Umweltrecht, die die meiste Bürokratie verursachen. Um diesen Aufwand zu messen, hat die Kommission an drei Beratungsfirmen Aufträge für insgesamt 20 Mio. Euro vergeben. Wir erhalten diese Ergebnisse und Vorarbeiten der Kommission und erstellen darauf aufbauend unsere Vorschläge.

Wann liegen die Ergebnisse der drei Beratungsfirmen vor?

Berger: Ende 2008. Wir prüfen sie und entwickeln bis dahin und später darauf aufbauend eigene Vorschläge mit Kommissar Verheugen und seinen Kollegen.

2009 tritt aber eine neue EU-Kommission an. Wird Ihre Expertengruppe nicht obsolet?

Berger: Wir legen Wert darauf, schon vorher Sofortmaßnahmen zu entwickeln, die zügig umgesetzt werden. Außerdem wollen wir ja die Berater nicht ersetzen, sondern machen uns eigene Gedanken. Etwa: Welche Aufgabe kann sinnvoll auf EU-Ebene ausgeführt werden, welche auf nationaler, welche auf Länderebene, welche von den Kommunen? Da wird man feststellen, dass vieles doppelt erledigt wird. Die Aufgabenteilung muss dann nach dem Prinzip der Subsidiarität erfolgen. Die Gretchenfrage aber lautet: Wofür soll der Staat überhaupt zuständig sein? Könnten nicht viele Aufgaben, die er jetzt wahrnimmt, privatisiert werden, zumal sie schon jetzt am Markt angeboten werden?

Viel Gesetzeswust entsteht, weil sich Unternehmer Normen wünschen, die ihre Wettbewerbsposition absichern. Bestes Beispiel: der berüchtigte EU-genormte Traktorsitz. Den wollten die deutschen Traktorenhersteller – nicht die EU-Kommission.

Berger: In so einem Fall müssen wir uns ein Urteil darüber bilden, ob es sinnvoller ist, dass der Wettbewerb entscheidet – was in der Regel Fortschritt mit sich bringt. Oder ob es einer europaweit einheitlichen Regelung bedarf. Wir werden uns also ein politisch-strategisches Urteil bilden und es der EU-Kommission vorschlagen.

An solch einer Staatsreform scheitert aber sogar ein kleines Land wie Österreich.

Berger: Das muss aber nicht so sein. Die deutsche Föderalismusreform hat immerhin bewirkt, dass die Aufgabenteilung zwischen Bund und Ländern erheblich entzerrt wurde. Der Bundesrat entscheidet nun nicht mehr über zwei Drittel aller Gesetze mit, sondern nur über rund 40 Prozent. Damit ist die Autonomie des Bundes größer, die Aufgabentrennung klarer, die Gesetzgebungsverfahren laufen schneller ab.

In Deutschland zahlen im Finanzausgleich vier Länder, und zwölf empfangen netto. In Österreich zahlt eine Körperschaft, nämlich der Bund – und neun Bundesländer empfangen, ohne wesentliche eigene Einnahmen zu haben. Und sie wollen auch keine eigenen Steuern einheben...

Berger: Die Länder wollen das nicht?

So ist es. Täte Österreich Steuerwettbewerb gut, wie ihn die Schweizer Kantone haben?

Berger: Die Frage ist, wie das Land politisch geordnet sein will. Glaubt man daran, dass Wettbewerb zu etwas Positivem führt? Die Schweizer offensichtlich – zugunsten ihrer Bürger. Denn trotz Steuerwettbewerbs ist ja kein Kanton ohne Einwohner. Zürich, mit den höchsten Steuern, ist für seine Bürger sogar sehr attraktiv, weil es ansehnliche Leistungen für diese Steuern bietet.

Wie würden Sie Österreich ordnen?

Berger: Die Frage nach der bundesstaatlichen Neuordnung würde ich in Österreich nicht stellen. Die Menschen identifizieren sich ja mit ihrer Heimat. Sinnvoll ist in Österreich aber sicher eine klare Aufgabenteilung zwischen Bund und Ländern. Ob man den Ländern Finanzautonomie einräumt, ist eine politische Frage. Ich würde sie bejahen. Ich meine aber nicht, dass in Österreich unbedingt ein Steuerwettbewerb notwendig ist. Ihr Land ist ja ein kompaktes Land.

In Österreich gibt es 19 Krankenkassen. Die bekommen die Kunden zwangsweise zugewiesen – und trotzdem sind zwei Kassen faktisch bankrott. Ist das vernünftig?

Berger: In Deutschland sieht das ähnlich aus. In einem Gesundheitssystem, das von Steuerzuschüssen und Selbstbehalten der Bürger lebt und de facto eine Zwei-Klassen-Medizin bewirkt, könnte die Zahl der Kassen wohl erheblich reduziert werden. Denn nur so kann man den Leistungsaufwand in ein vernünftiges Verhältnis zum Verwaltungsaufwand bringen. Und je mehr Körperschaften es gibt, umso ungünstiger ist für Patienten und Ärzte dieses Verhältnis Leistungs- zu Verwaltungsaufwand. Bei den öffentlichen Körperschaften ist keine Angst vor zu viel Zentralisierung angebracht: weder in Deutschland noch in Österreich.

Fällt Ihnen spontan ein Gesetz ein, das Sie sofort abschaffen würden?

Berger: In Deutschland gibt es eine Vorschrift, wonach in Betriebstoiletten eine Mindesttemperatur von 19,5 Grad Celsius zu herrschen hat. Warum nicht 20 Grad? Oder 19 Grad? Diese Anordnung hat sich vermutlich ein preußischer Oberamtmann vor 100 Jahren ausgedacht – es gibt sie aber immer noch. Der Staat sollte seine Bürger grundsätzlich für mündig halten und ihnen weitgehende Verantwortung übertragen.

ZUR PERSON: Roland Berger

1967 gründete der 1937 in Berlin Geborene die nach ihm benannte Consultingfirma. In Österreich und Bayern aufgewachsen, schloss er 1962 sein BWL-Studium in München als Jahrgangsbester ab.

1988-1998 gehörte die Firma der Deutschen Bank, jetzt ist sie im Besitz der Führung des Beratungsunternehmens. 2003 wechselte Berger in den Aufsichtsrat. Seit kurzem gehört er einer Expertengruppe an, die für die EU-Kommission die Auswüchse der EU-Bürokratie bekämpfen soll. [Fabry]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.12.2007)

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