Warum Stalin bei Putin zu neuen Ehren kommt

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Der Kreml instrumentalisiert die imperiale Geschichte für seine Zwecke.

Der Präsident stand vor der Wand und blickte auf die Galerie mit den Schwarz-Weiß-Fotografien. Gesichter, lauter Gesichter von Opfern. 20.765 Personen waren hier in Butowo, einem Hinrichtungsplatz der sowjetischen Geheimpolizei NKWD, zwischen August 1937 und Oktober 1938 erschossen worden. Wladimir Putin schüttelte den Kopf und murmelte: „Es ist zum Verrücktwerden. Das ist alles unglaublich. Warum?“

Kurz zuvor hatte er sich in einer kurzen Ansprache an die Teilnehmer einer Veranstaltung gewandt, die sich hier am 30. Oktober zum Gedenken an die Opfer von Stalins „Großem Terror“ 1937/1938 versammelt hatten: „Für unser Land ist das eine besondere Tragödie – weil es in einem so riesigen Ausmaß geschah. Es wurden Hunderttausende, Millionen von Menschen vernichtet, ins Lager geschickt, gemartert. (...) Das waren die effektivsten Menschen, das Licht der Nation. Und wir bemerken seit vielen Jahren bis heute diese Tragödie an uns.“

Es ist noch gar nicht lange her, da fielen Putin zum Jahr 1937 ganz andere Dinge ein. Am 21. Juni erklärte er vor Geschichtslehrern, die der Kreml zu einer Konferenz geladen hatte: „Ja, wir haben ein paar furchtbare Seiten in der russischen Geschichte. Lasst uns die Ereignisse nicht vergessen, die 1937 begonnen haben. Aber in anderen Ländern haben sich noch viel schrecklichere Dinge ereignet. Wir haben ja zumindest keine Atomwaffen gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt. (...) Wir haben keine schwarzen Seiten wie den Nazismus. Wir sollten niemandem erlauben, uns Schuldgefühle zu machen – die sollen über ihre eigene dunkle Geschichte nachdenken.“

Welcher Putin gilt?

Welcher Putin gilt jetzt eigentlich? Der Putin vom 30. Oktober, der anzuerkennen scheint, dass während der 15 Monate von Stalins Großem Terror, der sich heuer zum 70. Mal jährt, völlig sinnlos über 700.000 Menschen umgebracht worden waren (insgesamt wird die Zahl der Opfer der Repressionen während Stalins Herrschaft 1924 bis 1953 auf bis zu 20 Millionen geschätzt). Oder der Putin vom 21. Juni, für den 1937 im internationalen Vergleich nur ein böses Episödchen ist.

Vieles deutet darauf hin, dass beide Putins gelten. Geschichte, vor allem die sowjetische Geschichte, wird von den heutigen Machthabern in Moskau eiskalt instrumentalisiert. Das erklärt, warum die regierende Elite heute nichts mehr dagegen hat, die von den Bolschewiki verherrlichte Oktoberrevolution nun als das zu bezeichnen, was sie war: ein Putsch. Damit gerät auch Lenin zunehmend in ein schiefes Licht und man kann Wetten abschließen, wie lange die Mumie des Schreibtisch-Mörders noch auf dem Roten Platz ausgestellt sein wird.

Andererseits erfährt der noch größere Massenmörder Stalin im heutigen Russland eine Verehrung wie zu seinen Lebzeiten nicht mehr. Man verschweigt zwar seine dunklen Seiten nicht, aber umso mehr wird er als Kriegsherr, Imperator und Modernisierer verehrt und in eine Linie mit „Iwan dem Schrecklichen“ und „Peter dem Großen“ gestellt. Das Bild dieser starken Staatsmänner, die ihre eigene Agenda verfolgten, sich von außen nichts dreinreden ließen und die von den Nachbarn gefürchtet wurden, gefällt Putin und Gefolge ganz offensichtlich.

Aber diese neue, instrumentalisierte Geschichte Russlands ist eine kastrierte Geschichte und damit unbewältigte Vergangenheit. „Bis heute gibt es kein nationales Denkmal für die Opfer der politischen Verfolgungen“, beklagt die Historikerin Irina Scherbakowa. „Es gibt kein Museum, das zum Symbol für die Abrechnung mit der Vergangenheit geworden wäre. Weder die Regierung noch die Bevölkerung sind daran interessiert, die Erinnerung an die politischen Verfolgungen zum Fundament für den Aufbau einer Zivilgesellschaft machen zu wollen.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.11.2007)

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