175 Jahre „Die Presse“

Plan einer paneuropäischen Republik

Richard Coudenhove-Kalergi
(1894–1972) Gründer der Paneuropa-Bewegung.
Richard Coudenhove-Kalergi (1894–1972) Gründer der Paneuropa-Bewegung.Scherl / picturedesk.com
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10. November 1922. Die Idee von einem gemeinsamen Europa.

Der Krieg hat die Gliederung der Welt verändert. Das alte System der Großmächte musste einem neuen System von Weltmächten weichen. Das kontinentale Europa von Portugal bis Polen wird sich entweder zu einem Überstaat zusammenschließen oder noch im Laufe dieses Jahrhunderts politisch, wirtschaftlich und kulturell zugrunde gehen. Misslingt der europäische Zusammenschluss, treibt Europa seine analytische und destruktive Politik fort, (. . .) dann verfällt das zersplitterte Europa der Zukunft dem gleichen Schicksal wie das zersplitterte Deutschland der Vergangenheit. Europas Stellung in der Welt gleicht Deutschlands Stellung in Europa: Die Folgen des Weltkrieges für Europa drohen die gleichen zu werden wie die des Dreißigjährigen Krieges für Deutschland. (. . .) Und wenn Europa sich nicht bald auf sich selbst besinnt, werden seine Völker zu ohnmächtigen Schachfiguren in den Händen der Londoner und Moskauer Machthaber herabsinken.

Ein einiges, freies Europa kann sich nur unter Ausschluss der beiden europäischen Weltmächte England und Russland bilden. Dass die Mutterländer jener beiden Weltreiche geografisch zu Europa zählen, darf nicht darüber täuschen, dass sie politisch eigene Weltteile bilden.

Im kommenden Europa dürfen keine Nur-Deutschen, keine Nur-Franzosen oder Nur-Italiener mehr herrschen – sondern Europäer, Männer von wahrhaft europäischer Kultur und Gesinnung. Wer sich bloß als Mitglied einer Sondernation fühlt, ist zu beschränkt zum Regieren. Die Politik solcher Menschen muss notwendig zu Konflikten führen, die Konflikte zum Krieg, der Krieg zum Chaos. Nur Paneuropäer sind fähig und berufen, Paneuropa aufzubauen. Europäisches Gemeinschaftsgefühl ist die notwendige Etappe zum Kosmopolitismus, weil über Paneuropa der Weg zum Weltbund führt.

Europäisches Gemeinschaftsgefühl

Das größte Hindernis für die Bildung Paneuropas ist die deutsch-französische Rivalität; es kann erst zustande kommen, wenn diese beiden Völker (. . .) sich in den Dienst ihres gemeinsamen größeren Vaterlandes stellen. Das Problem der europäischen Staatsform ist eng verbunden mit der Frage des Zusammenschlusses. Die Verfassung des föderierten Europas müsste republikanisch sein, wie die der Vereinigten Staaten oder der Schweiz, frei nach innen, einig nach außen, getragen von Solidarität und Gleichgewicht. (. . .)

Solange in der öffentlichen Meinung Europas der Nationalismus vorherrscht, kann nicht von dessen demokratischen Regierungen die Initiative zur Schaffung Paneuropas ausgehen. Paneuropa muss erst in den Köpfen und Herzen seiner Völker lebendig werden, ehe es auf der Weltkarte entstehen kann.

Jubiläum

Welche Zukunft haben Liberalismus und Meinungsfreiheit? Diese Frage stellte sich im Revolutionsjahr 1848, als „Die Presse“ erstmals erschien. Und sie stellt sich heute mehr denn je. In unserem Schwerpunkt zum Jubiläum blicken wir zurück und nach vorne.

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