175 Jahre „Die Presse“

Österreichs Zukunft hat begonnen

Fritz Molden (1924–2014)
Fritz Molden (1924–2014)Barbara Pflaum / brandstaetter images / picturedesk.com
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15. Mai 1955. Zur Staatsvertragsunterzeichnung erscheint „Die Presse“ mit einem rot-weiß-roten Rahmen.

Eine Nachricht ist heute aus Sarajewo eingetroffen, welche die ganze Monarchie auf das tiefste erschüttern wird . . .“ Mit diesen Worten verkündete die Extraausgabe der „Neuen Freien Presse“ am 28. Juni 1914 die Ermordung des Thronfolgers Franz Ferdinand. (. . .) Nicht nur die österreichisch-ungarische Monarchie, nein, das ganz gesättigte und, wie es schien, so wohlfundierte alte Europa, das im beginnenden 20. Jahrhundert den Höhepunkt seiner Bedeutung als Zentrum des Erdballs erreicht hatte, wurde durch die Folgen der Schüsse von Sarajewo förmlich aus den Angeln gehoben. Eine Welt, die (. . .) trotz aller Anzeichen des drohenden Sturmes noch für völlig unerschütterlich gehalten wurde, stürzte im Geschützdonner der Materialschlachten von Gorlice bis Verdun, an der Maas und am Isonzo endgültig zusammen.

Österreich aber konnte seit dem Juni 1914 seine Ruhe nicht wiederfinden. Als das große Donaureich sich in den Novembertagen 1918 in seine Bestandteile auflöste, konnten sich die Heimkehrer jener Tage im klein gewordenen Vaterland (. . .) nicht zurechtfinden. Das übrig gebliebene schmal gewordene Land wurde immer wieder von den Fieberschauern der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen des großen Zusammenbruches und des sich in seiner Grundstruktur wandelnden europäischen Raumes erschüttert. Das Österreich der Ersten Republik, an dessen Sinn und Lebensfähigkeit seine eigenen Bewohner nicht richtig glauben konnten, zerbrach daran ebenso wie der kurzlebige Ständestaat. (. . .)

Am 11. März 1938 verschwand Österreich von der Landkarte. Aber gleichzeitig begann an diesem Tag der innere Gesundungsprozess des österreichischen Volkes. Gerade der „Anschluss“ und seine Folgen ließen in den Menschen vom Neusiedler- bis zum Bodensee, vom Böhmerwald bis zu den Karawanken ein Zusammengehörigkeitsgefühl entstehen, wie es vordem unbekannt war. Die Heimkehrer des Zweiten Weltkrieges kamen nicht mehr wie ihre Väter anno achtzehn in ein künstlich aufgezwungenes und fremdes Staatsgebilde, sondern in die durch Besetzung, und Krieg jedem bewusst gewordene echte Gemeinschaft des österreichischen Vaterlandes zurück.

Auf diesen Grundlagen konnte die Zweite Republik ihre innere und äußere Existenz aufbauen. Eine Existenz allerdings, die (. . .) durch die vierfache Besetzung in Frage gestellt war. Die Zonenschranken an der Enns und auf dem Semmering teilten ja nicht nur Österreich in zwei Teile, sie bildeten gleichzeitig die Grenzlinie einer in zwei Lager aufgespaltenen Welt. Der Machtkoloss der Sowjetunion hatte sich bis tief in das Herz Europas vorgeschoben und er schien immer weniger daran zu denken, die einmal erreichten Raumgewinne wieder aufzugeben. Das russische „Njet“ (. . .) schien eine allmähliche, dann aber definitive Teilung Österreichs vorzubereiten.

Der (. . .) Moskauer Entschluss, Österreich freizugeben, ist in erster Linie auf die im letzten Jahr sich entwickelnden Verschiebungen der weltpolitischen Konstellation, vor allem im europäischen Raum, zurückzuführen (. . .) und hat die Männer im Kreml zu einer kühlen und nüchternen Revision ihres Konzepts veranlasst. Österreich, in den letzten zehn Jahren zum bloßen Objekt der Weltpolitik degradiert, kam dabei glücklich zum Zuge. Dank einer günstigen weltpolitischen Konstellation, die seine Staatsmänner im richtigen Augenblick richtig zu nützen verstanden, aber auch dank seiner eigenen Beharrlichkeit im Kampf um die Freiheit (. . .).

Österreich hat sich den heutigen Freudentag, an dem die Großen der Welt das historische Dokument des Staatsvertrages im Schloss Belvedere unterzeichnen werden, redlich verdient. Es weiß aber, dass es seine teuer erkämpfte Freiheit als kleines Volk im Herzen Europas auch in Zukunft mit ganzer, von innerer Einigkeit getragener Kraft wachsam zu verteidigen bereit sein muss. Denn Österreichs Zukunft als freier Staat hat nun begonnen; uns fällt es zu, sie richtig zu gestalten. Wir haben Österreich als freien und souveränen Staat zurückgewonnen, wir wollen es frei und stark erhalten, des Dichterwortes bewusst „Der Österreicher hat ein Vaterland und liebt‘s und hat auch Ursach‘, es zu lieben.“

Fritz Molden (1924–2014)

Widerstandskämpfer, Journalist, Autor, Verleger und Herausgeber der „Presse“.

Jubiläum

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