175 Jahre „Die Presse“

Darf ich arbeiten? Ich zahle gut!

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Vielleicht gibt es in 175 Jahren nichts mehr zu tun. Dann kann man im Darknet Schaufeln und Sägen kaufen – oder Nadeln, Wolle, Zwirn, Brotöfen und Sauerteig. Weil die Menschen immer etwas machen wollen. Weil sie sich spüren müssen.

Schuld am Zustand der Welt ist die Baumwolle. Im 18. Jahrhundert wuchs der Import der in Indien angebauten Faser derart, dass sich Schafzüchter deshalb in die Wolle kriegten. Aufhalten konnten sie den Siegeszug der Cotton Companies nicht. Der Wunsch nach nicht kratzenden Unterhosen trieb die Industrialisierung an, die Sklaverei, monokulturelle Landwirtschaft. Afrika wurde wirtschaftlich vernichtet, die USA mittels Bürgerkrieg gespalten. Baumwoll-Lobbyisten haben die Hanfkultur zerstört, Marihuana verboten und dem Alkohol das Rauschmonopol geebnet. Seit man auf die Idee gekommen ist, Baumwolle im großen Stil anzupflanzen, hat sich die Arbeit von den natürlichen Bedürfnissen entfremdet. Baumwolle hat dem Materialismus die Tür geöffnet, Religion durch Arbeit ersetzt. Oder war es die Kartoffel? Der Mais? Oder doch die Dampfmaschine?

Und wie geht das weiter? Zuerst die gute Nachricht: In 175 Jahren wird niemand mehr arbeiten müssen. Die schlechte? In der fernen, nahen Zukunft wird es überhaupt keine Arbeit mehr geben. Noch gibt es Menschen an Supermarktkassen, Kinderarbeit in asiatischen Fabriken, Spargelstecher, Krankenpfleger, Leute im Bergbau, Gärtner. Aber schon bald wird das alles maschinell erledigt werden. Ticketautomaten, Roboterstimmen bei Hotlines, Eincheckterminals in Hotels, selbstfahrende Autos, KI-basierte Operateure, Richter, Polizisten? Überall wird der Mensch ersetzt. Es wird möglich sein, dass das Leben aller nur noch Freizeit ist, also Familie, Natur, Sport, Spiele, Filme, Bücher. Ist das denkbar? Nicht mehr ora et labora, sondern ludere und kudere?

Die römischen Oberfaulenzer

Ist das die Erfüllung eines alten Menschheitstraums? Oder ein Horrorszenarium? Wie wird das sein, wenn es nichts mehr zu tun gibt? Eine dekadente Menschheit, die sich benimmt wie die römischen Oberfaulenzer vor dem Einfall der Barbaren? Oder wie der französische Tüdeldü-Adel, ehe er von der Revolution einen Kopf kürzer gemacht worden ist? Wenn niemand arbeitet, stellt sich die Frage: Wie wird das Produzierte verteilt? Gibt es eine kleine, extrem reiche Oberschicht, eine dünn gesäte Mittelklasse und ein Heer von Armen? Nehmen wir an, bis zum Ende des 22. Jahrhunderts ist das gelöst. Es gibt genügend Wohnraum, weil die individuell gestaltbaren Einheiten vom Fließband kommen. Die Nahrung stammt von computerüberwachten Feldern und Insektenfarmen, alle Konsumgüter aus vollautomatisierten Betrieben.

In den meisten Religionen gilt, dass nur der gottgefällig lebt, der sich abschuftet. Jesus hat sich um Huren und Zöllner gekümmert, aber nicht um die Faulen. Oder war er selbst einer? Der westliche Mensch will etwas Bleibendes schaffen, etwas, das Nachkommen an ihn denken lässt, dem Tod ein Schnippchen schlägt. Arbeit, das ist Karriere, Kaufkraft, Konsum, Seelenheil – der gemeinsame Nenner aller erfolgreichen Ideologien. Alles ist Arbeit geworden: Sex, Eitelkeit, Krankheit, Essen, Sterben, die Summe aller Sünden. Schon Kleinkinder werden an den Arbeitsalltag gewöhnt. Aufstehen, das Haus verlassen, erst abends wieder zurückkommen. Eingespannt sein.

Wir sind Arbeit – und sonst nichts mehr. Aber Arbeit ermüdet. Kein Lebewesen verbringt die meiste Zeit seines Daseins mit einer Arbeit, die nichts mit seinem Heim, seiner Nahrung oder seiner Familie zu tun hat. Wir Menschen schon. Was machst du, ist die erste Frage, die wir einer neuen Bekanntschaft stellen. Was arbeitest du? Bist du nützlich? Die Arbeit steht im Zentrum unseres Daseins. Wegen der Arbeit spielen wir nicht mit unseren Kindern, haben wir keine Zeit für Freunde, genießen wir unser Leben nicht, essen wir schnell und billig und schlecht, sind wir nicht mehr eins mit der Natur, schlafen kaum, sind gehetzt. Sogar mit unserem Körper sind wir unzufrieden, weil wir zu wenig abgearbeitet haben. Die Arbeit hat uns gebändigt, willenlos gemacht. Arbeit demütigt, macht klein. Und so pervers das ist, muss man auch noch dem dankbar sein, der sie einem gibt.

Bereits Karl Marxens Schwiegersohn, Paul Lafargue, hat die Konsequenz aus dieser alles umfassenden „Verarbeitung“ gezogen und ein Lob der Faulheit geschrieben. Es gibt Eichendorffs Taugenichts, den Oblomow und viele andere Helden des Nichtstuns. Selbst Pippi Langstrumpf singt: „Faul sein ist wunderschön, denn die Arbeit hat noch Zeit.“ Aber uns gilt der Fleißige als höchstes Ideal.

Egal, wie gut es allen geht, wir sind unzufrieden, weil wir noch etwas zu arbeiten haben. Die Zeit arbeitet für uns? Nein, wir arbeiten für die Zeit, dafür, dass sie vergeht, wir uns leisten können, dass man sie uns vertreibt. Zeit, heißt es, ist Geld. Und Geld arbeitet. Aber nicht für uns.

Arbeit ist gut. Ein durch und durch pietistisches Weltbild, verklemmt, protestantisch, geizig. Wer arbeitet, kommt in den Himmel. Arbeit ist die neue Tugend, sagt man, dabei richtet sie viel Schaden an. Die meiste Arbeit dient dazu, etwas anders erscheinen zu lassen, als es ist. Arbeit ist Verschleierung. Ein Teil der Arbeit tut ja nur so, als ob sie Arbeit wäre – und die andere, die wirkliche Arbeit bläst etwas auf zur Unwirklichkeit, macht es größer, als es ist. Früher, ich habe das oft erlebt, gab es in Firmen noch Tachinierer, Leute, die sich durchgemogelt und schon morgens getrunken haben. Solche Typen wurden längst eliminiert. Heute verlangt man Selbstdisziplin.

Es sind längst nicht mehr die Arbeiter, eine ausgestorbene Klasse, die sich über Arbeit definiert, sondern Menschen in Führungsebenen, Kreative. Je weniger sich jemand die Finger schmutzig macht, desto öfter spricht er von offenen Baustellen und abzuarbeitenden Bergen. Oder er hat seine Vergangenheit aufzuarbeiten.

Je weniger sich jemand in diesen Arbeitsprozess einfügt, desto beunruhigender wirkt er auf die Gesellschaft. Niemand erregt mehr Volkszorn als ein Sozialhilfeempfänger, der stolz auf sein Nichtstun ist. Ein Obdachloser, der eine Zeitung verkauft, fügt sich dagegen in das System ein. Auch ein Bettler gehört irgendwie dazu. Selbst im Gefängnis wird gearbeitet, in der psychiatrischen Anstalt, alle, sogar Asylbewerber wollen mitarbeiten, dazugehören. Arbeit ist unser Führer, unsere Religion, auch wenn sie sinnentleert, entfremdet und nutzlos ist. Wir beten sie an. Es muss gearbeitet werden, und zwar immer, auch nach Ladenschluss, selbst am Sonntag – nur am Tag der Arbeit nicht, einem Relikt aus einem anderen Klassenbewusstsein. Am 1. Mai, dem Tag der Arbeit, wird in Folklore aufmarschiert und der Nostalgie gelauscht.

Wussten Sie, dass nicht einmal die Sklaven im alten Rom mehr als 30 Stunden in der Woche arbeiten mussten? Und wir? 60? 80? Wer ist ein freier Mensch? Der, den die Arbeit nicht verdorben ha? Einer, der keine Arbeit braucht, um er selbst zu sein? Es war ein schöner Gedanke des 19. Jahrhunderts, den Besitz abschaffen zu wollen. Das 20. Jahrhundert hat ihn ad absurdum geführt. Heute können wir an eine Welt denken, in der niemand mehr eine Erwerbstätigkeit braucht. Aber wie werden die Menschen dann leben? In großen Spa-Anlagen mit Pool und Wellnessbereich, abgeschottet von der durch den Klimawandel verpesteten Atmosphäre?

Von Drohnen gelieferte Fertigmenüs

Kann das sein? Momentan arbeiten die meisten, um über die Runden zu kommen, und nichts ersehnt der Durchschnittsbürger mehr als das nächste Wochenende. Lustvolles Jammern über die das Dasein bestimmende Arbeit füllt den Tag so sehr aus, dass manche gar nicht wüssten, was sie ohne täten. Aber hat nicht jede Modernisierung andere Arbeitsfelder aufgetan? Wer dereinst Korn schnitt und drosch, fand sich bald am Fließband einer Fabrik wieder, als er wegrationalisiert wurde, wechselte er in einen Dienstleistungsbetrieb, und nun sitzt er an einem Computer, arbeitet für die Kreativwirtschaft. Wird man also immer eine neue Arbeit erfinden?

Oder entwickeln wir uns wirklich zu einer reinen Vergnügungsgesellschaft mit Roboterhaustieren, KI-Lehrern, von Drohnen gelieferten Fertigmenüs, Maschinenärzten, Dauerunterhaltung, künstlich erzeugter Spannung in den sozialen Medien? Was für uns schrecklich klingt, ist dann für unsere Kindeskinder normal. Vielleicht gibt es dann ein Darknet, in dem Krampen, Schaufeln und Sägen verkauft werden, oder Nadeln, Wolle, Zwirn, Brotöfen und Sauerteig. Oder man zahlt, um arbeiten zu dürfen, weil die Leute etwas machen wollen, das mit ihren Leben zu tun hat, weil sie sich spüren müssen.

Der Mensch hat in den vergangenen 200 Jahren viel Unfug angestellt, und wenn man sich anschaut, wie viel Ungerechtigkeit und Brutalität allein die Gier nach Baumwolle in die Welt gebracht hat, dann ist auch für die Zukunft mit einigem Schwachsinn zu rechnen. Es wird dauern, bis wir die neuen Technologien einsetzen können, aber letztlich wird es uns gelingen, wohl auf eine Art, die heute unvorstellbar ist. Arbeit bleibt genug. Wenn nicht, erfinden wir uns eine. Und wenn es nur die Betreuung einer Seite in sozialen Medien ist, irgendetwas braucht der Mensch, weil er sich sonst nutzlos fühlt und verkümmert. Oder er wird buddhistischer Mönch. Aber daran glaube ich nicht.

Franzobel

Geboren 1967 in Vöcklabruck. War bis 1991 als bildender Künstler tätig. Zuletzt erschienen: „Einsteins Hirn“ (Zsolnay).

Jubiläum

Welche Zukunft haben Liberalismus und Meinungsfreiheit? Diese Frage stellte sich im Revolutionsjahr 1848, als „Die Presse“ erstmals erschien. Und sie stellt sich heute mehr denn je. In unserem Schwerpunkt zum Jubiläum blicken wir zurück und nach vorne.

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