175 Jahre „Die Presse“

Echtes Fleisch kennt keiner mehr

Die Menschen sind wieder kleiner. Und wie schmeckt das Essen der Zukunft? Da ich Realistin bin: gut!

In der Zukunft werde ich nicht essen, sondern ich werde gegessen werden. Es gibt dafür eine sanfte Methode, vorausgesetzt, man ist tot und in einem Hochbeet für biologisches Gemüse ruhend. Eine ethisch korrekt anmutende Küche verarbeitet die essbaren Pflanzenteile für den Verzehr mit großem Bewusstsein. Die Gäste nehmen an Holztischen Platz (der Sarg im Hochbeet war aus Bio-Karton), stammen aus Eliten der Bakterienbrauereien, deren Kulturen Welthunger beseitigen. Die Nahrungskette ist entschlossen, die Proteinversorgung der Menschheit zu garantieren. Beim Dinner auf dem Zukunftshof wird agrikulturale Natürlichkeit gepflogen. Hochbeete stehen um den friedlichen Hof. Die rote Bete wird in hauchdünnen Scheiben als Carpaccio serviert. Dann die gedämpften Karotten, ein paar Kartoffeln, Sellerie. Das Protein kommt hier nicht aus dem 3-D-Drucker, ist nicht aus herkömmlichem Laborfleisch, sondern wird aus edelstem Korn und teurem Soja gewonnen. Billiger sind die Bakterien, die die Proteine und das Fett beibringen. Wie Fleisch zukünftig geschmeckt werden wird, ist schwer vorstellbar, da anzunehmen ist, dass echtes Fleisch keiner mehr kennt, weil es schon heute gar nicht mehr schmeckt. Nun, mein Fleisch soll niemand essen, ich bin ja nicht Jesus, nicht Gott und seinen Raubtieren ausgeliefert.

Jedenfalls würde ich so wenig Antibiotika wie möglich schlucken, keine Chemo benötigen, zudem über ein einwandfreies, ökologisch reines Gewissen verfügen wollen, bevor ich auf dem Friedhof des Zukunftshofes landete. Erst kommt die Moral, dann kommt das Fressen. Ein Luxus. Ich will sein, was ich esse, sozusagen. Der Platz auf den Friedhöfen wird enger, die Meere und Wüsten nehmen zu, die Kremation verpestet die Luft.

Private Entsalzungsanlagen, salztolerante Pflanzen, Kleingewächshäuser in den Küchen. Das Meer bietet glitschige Algen und nessellose Quallen, die mir in der Bucht von Piran schon zwischen die Finger geraten sind. Ich stecke sie in eine Küchenmaschine, die alles mit Mikroben zu Pasten für die Patrone des 3-D-Druckers mixt. Habe ich Lust auf Steak oder Spaghetti? Ich besitze noch echte Lorbeerblätter. Das Geräusch erinnerte mich an den Biss in Grissini. Die Blätter von Pasolinis Grab in Casarsa verloren in kürzester Zeit die Farbe, doch die Suppe, meine Nährlösung, schmeckt würzig.

Der Meeresboden wird beackert

Der Mensch ist nie außerhalb, sondern immer innerhalb der Nahrungskette zu sehen. Ich dachte darüber stets als seelische Komponente der Atmosphäre nach. Dabei geht es tatsächlich um die Qualität meiner leiblichen Überreste. Grauenhaft ist die Nachhaltigkeit deshalb, weil jeder Verbrecher gegen die Menschlichkeit auch in dieser Kette steckt. Utopie bleibt, diese Ungerechtigkeit aus der Welt zu schaffen. Moral ist menschlich.

Der Meeresboden wird beackert, Hochhausplantagen geben der Stadt die Silhouette. Ich habe Zwergweizen und Zwergmais zu Hause. Die Menschen sind wieder kleiner, und so werden wir den Zierzwerg erhalten, weniger Probleme mit der Entsorgung haben. Wir schaffen schwerelose Verhältnisse, die die Pflege erleichtern und Pflanzenwuchs befördern wird. Vielleicht wird unser Erdenhabitat in einer Pflanzenexplosion zuwachsen? Wir müssen die Darmflora erhalten und uns menschrechtlich gleichgestellt als Stoffwechsler stabilisieren. Wie schmeckt das Essen der Zukunft? Da ich Realistin bin: gut! Gut ist, wovon immer zu wenig gewesen sein wird: Genuss in Frieden.

Jubiläum

Welche Zukunft haben Liberalismus und Meinungsfreiheit? Diese Frage stellte sich im Revolutionsjahr 1848, als „Die Presse“ erstmals erschien. Und sie stellt sich heute mehr denn je. In unserem Schwerpunkt zum Jubiläum blicken wir zurück und nach vorne.

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