175 Jahre „Die Presse“

Wir kriechen wie die Maulwürfe

Wir leben in einem Tunnelnetz – laut Gesetz darf man nicht rasten. Wenn wir innehalten, ertönt ein schriller Alarm.

Nach einem behördlichen Erlass begannen auch die letzten Skeptiker mit dem Graben. Sie nutzten alles, was zur Verfügung stand: Traktoren, alte Bohrmaschinen, Schaufeln, Granaten und ihre bloßen Hände. Das war vor 25 Jahren, in meinem Geburtsjahr 2173. Jetzt bewegen wir uns sonnenabgewandt in einem riesigen Tunnelnetz unter der Erdoberfläche. Schächte führen nach oben in unsere Häuser, Büros oder Supermärkte. Wer schlau ist, bewegt sich möglichst wenig. Die Gänge sind circa einen Meter hoch und breit, kleine Kinder können noch gebückt darin gehen, das ist gut für ihr Knochenwachstum.

Es gibt Hauptverkehrs- und Nebengänge, die oft nur für bestimmte Berufsgruppen zugänglich sind, etwa Lieferanten, Polizisten oder Bauingenieure. In den Schächten gibt es Leitern, und sukzessive werden die Tunnelwände stabilisiert. Gerade in den ersten Tunneljahren kam es zu zahlreichen Katastrophen, als Hunderte Menschen lebendig vergraben wurden. Man verirrt sich unglaublich leicht unter der Erde, die Beschilderung ist dürftig, und viele verpassen den richtigen Schacht nach oben und müssen so lange Umwege in Kauf nehmen. Richtungswechsel sind nur an dafür vorgesehenen Kreuzungen alle paar Kilometer möglich. Am besten hält man sich an die kurzen, notwendigen Wege. Man hört immer wieder von Menschen, die Fernweh bekommen und versuchen, Hunderte Kilometer zu robben. Die meisten schaffen es nicht. Es dauert Jahre, bis sie zurückkehren. Alle Grenzen sind dicht. Man muss geheime Nebenschächte finden, um ein Land oder eine Stadt zu verlassen. Den Erddreck unter den Fingernägeln werde ich nie los. Den Husten auch nicht. Wir kriechen wie die Maulwürfe. Die Stadt versorgt alle Bewohner einmal im Jahr mit Stirnlampen.

Oben sind nur Krähen und Tauben

Stollenmeistereien kümmern sich um die Stabilität der Gänge und gewährleisten eine durchgehende, wenn auch bescheidene Belüftung. Sie setzen sich auch für zweispurige Tunnel ein, weil manche so langsam krabbeln, dass sich ein riesiger Stau bildet. Bislang gibt es nur einspurige Tunnel in die jeweilige Richtung, zumindest unter Wien. Ein großes Problem ist der Datenempfang. Ab 600 Meter Tiefe wird es schwierig, und die meisten Gänge verlaufen noch tiefer. Außerdem haben wir noch immer keinen Umgang mit jenen gefunden, die auf ihren Wegen ersticken und in den Gängen liegen bleiben. Die dafür angedachten Nischen werden schnell überfüllt, es dauert oft Wochen, bis die Leichen durch die Beerdigungsschächte nach oben gebracht werden. Es stinkt.

Oben sind nur noch Krähen und Tauben und riesige Zelte, in denen wir Nahrung anbauen. Wir nennen diese Zelte Übertagebaus. Auch Strom und Daten verlaufen noch oberirdisch. Das heißt, sie verlaufen oberirdisch von uns aus gesehen. Unsere Gänge verlaufen unterhalb der Kabel und Pipelines. Manche Kabel haben den Geist aufgegeben, es ist äußerst schwer, sie von unten zu reparieren. Wir bringen den Vögeln unseren Müll zu denselben Schachtausgängen, durch die wir die Toten bringen. Wenn es oben regnet, werden manche Schächte geschlossen.

Bevor man sich aus dem Haus bewegt, muss man überprüfen, ob das überhaupt möglich ist. Manchmal bekommt einer Panik da unten, dann wird es gefährlich. Es sind meist die Älteren, die noch an das oberirdische Reisen gewohnt sind. Plötzlich bekommen sie keine Luft mehr oder schreien. Sie tun mir leid, auch wenn sie im Gegensatz zu denen, die nicht aus eigener Kraft kriechen können, wenigstens noch aus ihrem Haus kommen. Manche von ihnen werden wahnsinnig, und wenn sie nicht rechtzeitig eingefangen werden, fangen sie an, die Erde zu fressen, die sie umgibt. Andere werden zu Geisterkrabblern, sie legen sich auf den Rücken und rammen mit den Füßen voran in jene, die hinter ihnen folgen. Das geht meist nicht lange gut.

Ich bin in den Tunneln aufgewachsen, kenne keine andere öffentliche Fortbewegung. Ich gehöre zu den sogenannten Tunnelkindern. Nicht nur das Sterben, auch das Leben geschieht in den Nischen. Es gibt Nischen in unterschiedlichen Größen, die beeindruckendsten sind angeblich unter Peking, da passen bis zu 1000 Menschen rein. Unter Wien haben sie sogar Parkbänke in die Nischen unter der ehemaligen Oper gebracht, ich weiß nicht, wie. Da kann man sitzen und Musik aus Lautsprechern lauschen. Leider sind die Bänke immer besetzt. Diese Nischen sind wie die Bahnhöfe und Raststätten aus früheren Zeiten. Hier findet man Nahrung, es wird geplaudert und manchmal auch miteinander geschlafen, wenn man dafür keinen Platz oben hat. Es ist mühsam und heiß.

Irgendwo wird immer gebohrt

Laut Gesetz darf man nicht rasten. Wir müssen uns immer bewegen, denn wenn wir innehalten, ertönt ein schriller Alarm. Kaum wer hält sich daran, es dauert ohnehin Stunden, bis die Gesetzeshüter an irgendeine Stelle gelangen, und den Alarm kann man ignorieren. Man kann alles ignorieren, das lernt man unter der Erde. Außer Richtungs- und Abstandsregelungen sowie Zutrittsgesetzen gibt es sonst keine Vorschriften. Es gibt keine Vorfahrt und keine empfohlene Geschwindigkeit. Wozu auch? Es lärmt andauernd. Irgendwo wird immer gebohrt. Noch hat niemand was gegen das Echo unternommen, das von den Tunnelwänden schallt. Manche haben sich auf eigens hergestellte Rollbretter gelegt, um schneller vorwärtszukommen, damit sie beispielsweise Waren transportieren können, aber die Räder haben sich ständig in der Erde verkeilt. Ein ehemaliges Fiakerunternehmen hat unlängst versucht, Huskys in die Gänge zu bringen, damit sich Menschen von den Hunden gegen Geld ziehen lassen können. Aber die Vierbeiner sind nur durchgedreht da unten. Es gibt Hunde jetzt nur noch im Haus, und vielleicht streunen noch ein paar oben herum, ich weiß es nicht. Es bleibt uns nichts übrig, wir müssen kriechen, wenn wir von A nach B wollen. Viele bekommen deshalb Rückenschmerzen.

Die Ladestationen für unsere Stirnlampen sind ein einziges Ärgernis. Sie sind zu selten, und manchmal muss man Stunden warten, bis man drankommt, was lange Staus zur Folge hat. Wenn ich beispielsweise innerhalb Wiens unter der Donaustadt loskrieche, kann es mehrere Wochentage dauern, bis ich im Zentrum bin. Weil das alles so lang dauert, wird auch viel gegessen und getrunken unter der Erde. Leider entleeren sich die meisten nicht in den dafür vorgesehenen Nischen. Sie entleeren sich wo auch immer. Dazu schalten sie ihre Taschenlampe aus und verschwinden kurz in der Dunkelheit. Es gibt deshalb schon Vorschläge, weitere Tunnel zu graben, noch tiefer in der Erde. Andere wollen die bereits bestehenden Tunnel mit Beton versiegeln.

Umweltschutzorganisationen warnen vor beidem. Bald bleibt nichts mehr, was wir zerstören können, sagen sie. Aber das haben sie ja immer gesagt – und seht, wir kriechen noch immer!

Patrick Holzapfel

Geboren 1989, lebt in Niederösterreich. Autor, Filmemacher, freier Kurator. Derzeit entsteht sein erster Roman.

Jubiläum

Welche Zukunft haben Liberalismus und Meinungsfreiheit? Diese Frage stellte sich im Revolutionsjahr 1848, als „Die Presse“ erstmals erschien. Und sie stellt sich heute mehr denn je. In unserem Schwerpunkt zum Jubiläum blicken wir zurück und nach vorne.

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