175 Jahre „Die Presse“

Sitzen Aliens in den Ampeln?

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Der Tag besteht zwar immer noch aus 24 Stunden, aber die Stunden vergehen jetzt eben schneller. Nein, sie vergehen langsamer, denn die Sonne ist ja schneller. Oder umgekehrt? Ich verwechsle immer links und rechts, man muss mir das verzeihen. Oder war es der Mond? Irgendwas war mit dem Mond.

Ich schreibe das Jahr 2198. Dann streiche ich es wieder durch, schließlich bin nicht sicher, ob das überhaupt stimmt. Da sind zum einen die Vertreter der Phantomzeit-These, die davon ausgehen, dass knapp 300 Jahre Weltgeschichte zwischen 614 und 911 frei erfunden wurden. Andere stellen in Abrede, dass es die Jahre zwischen 2023 und 2099 gegeben hätte, und wieder andere meinen, dass man irgendwann zwischen 2099 und 2100 einfach 70 Jahre vergessen oder verschlampt hätte. Bis irgendjemand in den Spalt zwischen Herd und Kühlschrank schaut und sie wiederfindet.

In manchen Theorien sind Monarchen und Diktatoren schuld an der Misere, in anderen Aliens oder interdimensionale Lebensformen. Mit Sicherheit bestimmen lässt sich lediglich, dass sich nichts mit Sicherheit bestimmen lässt. Belege sind leicht herbeizuziehen. Was heißt es schon, dass Stempel verblasst wirken, dass das Papier gelbstichig ist und sich auflöst? Was bedeutet es schon, dass irgendjemand angeblich seine Unterschrift unter irgendein Schriftstück gesetzt hat? Jeder Spinner kann mit einem Knopfdruck ein absolut echtes Originaldokument herbeizaubern oder ein Foto, das ein reales Ereignis dokumentiert. Aber ein anderer Spinner zaubert daraufhin ein gegenteiliges Dokument hervor, ein Foto, das exakt denselben historischen Moment auf drastisch andere Art darstellt.

Was sind schon Erinnerungen? Was sind Zeitzeugen? Was sind Erfahrungen und Biografien? Es stellt sich nicht die Frage, welcher Politiker die Wahl gewonnen hat, sondern ob es überhaupt eine Wahl gab, ob es die Politiker überhaupt gibt. Es stellt sich nicht die Frage, wie der Krieg verläuft, sondern ob es den Krieg wirklich gibt, ob es diese Länder und Menschen wirklich gibt, die da angeblich in den Gräben liegen. Es wird angezweifelt, ob die Sonne morgen aufgehen wird und ob sie gestern untergegangen ist.

Ich persönlich glaube nur an das, was ich mit meinen eigenen Augen sehen kann. Und was ich sehe, ist eine Mauer. Was ich rieche, höre, fühle und schmecke, ist eine Mauer und dahinter vermutlich eine Stadt. Und auch da kann man sich nicht sicher sein. Wie alt sind die Straßen, durch die ich immer gegangen bin? Wie alt sind die Mauern um mich herum? Vielleicht hat irgendein manischer Gott das alles erst vor fünf Minuten hier hingestellt. Bekanntlich wurde auch Rom an einem Tag erbaut. Der Tiberkanal wurde in drei Stunden durch die ursprüngliche Betonlandschaft gefräst, in fünf Stunden mit grünbraunem Brackwasser gefüllt, die rostgebräunten Frachtschiffe wurden an den Kais aufgereiht und mit einer Milliarde Stechmückenlarven bepflanzt. In wenigen Minuten wurde der Petersdom spiralförmig aus dem Kopfsteinboden gezogen, der Papst auf dem vatikanischen Balkon montiert und die sixtinische Kapelle bunt ausgemalt.

Ein Haus als Wanderdüne

So weit erinnere ich mich an den Geschichtsunterricht. Das sind Fakten. Aber was sind heute Fakten? In dieser Stadt wird täglich die dreifache Fläche Roms verbaut. Die Architektur ist ständiger Veränderung unterworfen. Ein Haus zu betreten gleicht dem Versuch, sich in eine Wanderdüne einzunisten. Manchmal vergisst man, wo man wohnt. Dann ist man kurzzeitig obdachlos. Aber da wird schon das nächste Dach über einem errichtet. Steht ein Haus in Flammen, lässt man es so und respektiert die Entscheidung des Hauses zu brennen. Niemand weiß, wie groß die Stadt ist, wo sie anfängt und aufhört. Niemand weiß, wie viele Einwohner sie hat, Schätzungen variieren zwischen 100 Millionen und einem Dutzend.

Auf jedem Dachvorsprung sitzen eine Taube und eine Überwachungskamera. Da besteht nicht wirklich ein Unterschied. Dinge verschwinden. Personen verschwinden oder waren nie da. Personen werden verhaftet oder behaupten, dass sie verhaftet wurden, oder es gibt Videos, in denen sie behaupten, dass sie verhaftet wurden, oder es gibt jemanden, der behauptet, er habe ein Video gesehen, wo jemand behaupten würde, dass er verhaftet wurde. Die ganze Sache mit den Verhaftungen ist irgendwann so undurchsichtig geworden, dass ich beschloss, mich der Forschungsgruppe anzuschließen. Die Forschungsgruppe folgte einer für manche Menschen recht eigentümlich wirkenden Philosophie. Wir glaubten daran, dass es hinter den Verhaftungen eine Art Muster gäbe. Dass sich aus all den einzelnen real oder angeblich passierten Ereignissen ein System ableiten ließ, mit dem man Verhaftungen vorhersehen könne.

Ein gutes Beispiel dafür sind die Straßen. Wenn man eine Straße überquert, wird man manchmal verhaftet und manchmal nicht. Diese chaotische Mischung aus konsequenzlosen Überquerungen und denen, wenn die Fußgänger sofort von einem Streifenwagen mitgenommen wurden, wollte sich zuerst zu keinem sinnvollen Muster formen, bis es mir eines Tages wie Schuppen von den Augen fiel: die Ampel! Ich hatte die Ampel übersehen. Die Ampel, die als leuchtender Gegenstand an nahezu jedem Straßenübergang stand und im Allgemeinen zwei oder drei verschiedenfarbige Lichter im oberen, dickeren Teil ihres Metallkörpers hatte, war bisher von niemandem für signifikant befunden worden, da sie keinerlei physische Bewegungen oder Reaktionen von sich gab, außer, dass sie in regelmäßigen Abständen in unterschiedlichen Farben schien oder blinkte. Das sogenannte Ampel-Theorem besagt nun, dass die Verhaftung einer Person beim Überqueren einer Straße davon abhängt, ob das Licht in der gegenüber der Person stehenden Ampel Grün, Rot oder Gelb anzeigt. Bei einem roten Licht folgt der Festnahmewert 1, der eine Verhaftung bedeutet. Bei grünem Licht der Festnahmewert 0, der keine Verhaftung bedeutet. Bei gelbem Licht weiß ich jedoch immer noch nicht, wie es einzuschätzen ist, die Schätzung liegt momentan bei 0,65.

Zunächst wurde das Ampel-Theorem als esoterischer Humbug verlacht. Man sagte: Wie soll das Licht einer Ampel Auswirkungen darauf haben, ob jemand verhaftet wird? Licht ist nicht einmal stark genug, um ein Staubkorn anzuheben, wie soll es da einen Polizisten beeinflussen? Doch meine Forschung belegte: Es gibt ein Muster.

Über die Jahre trug meine Forschungsgruppe immer mehr Indizien für dieses überliegende Muster zusammen. Wir sammelten unsere Aufzeichnungen der Handlungen, die zu einer Verhaftung führen. Das war nicht perfekt, und oft lagen wir mit unseren Vorhersagen auch falsch. Wir betrachteten das Finden dieser Gesetze als kontinuierlichen, sich ständig selbst korrigierenden Prozess, der sich langsam einer Art Idealwert annähert, ohne ihn je zu erreichen, weil die Gesamtlage einfach zu komplex ist. Manche Handlungen führten nur an bestimmten Wochentagen zu Verhaftungen. Manchmal spielte das Alter der Personen eine Rolle, bei anderen Handlungen war die Körpergröße relevant, die Blutgruppe, das Vorliegen oder Nichtvorliegen einer infektiösen Krankheit oder das biologische oder gesellschaftlich konstruierte Geschlecht, die sexuelle Orientierung. Die absurde Menge an Faktoren, die in die Entscheidung über eine Verhaftung hineinspielten, machten es schwierig, von den einzelnen Fällen auf eine überliegende, universelle Struktur zu schließen. Aber wir versuchten es zumindest.

Unsere Arbeit wurde nicht überall gutgeheißen. Speziell vom fundamentalistisch religiösen Flügel wurde die Methodik als blasphemisch kritisiert. Man sah darin den Versuch, die von Gott gegebenen Gesetze durchschauen zu wollen. Sie verlangten den sofortigen Stopp unserer Experimente. Daraufhin wurden manche von uns verhaftet. Andere nicht. Schließlich sahen wir uns gezwungen, unsere Forschung einzustellen, und die meisten von uns kehrten zu der Idee zurück, dass es für die Verhaftungen schlicht keinen Grund gab. Es ist nun einmal so. Man wird verhaftet oder nicht verhaftet. Daran kann man nichts ändern. Egal, ob beim Blumengießen, beim Mittagessen, beim Spazierengehen oder dem Erwürgen eines wohlhabenden Verwandten, es kann einen überall und jederzeit erwischen.

Wie lange bin ich schon hier drin?

Auch was die Länge der Haftstrafen angeht, gibt es geteilte Meinungen. Sie reichen von wenigen Stunden bis hin zu Jahrhunderten. Aber was sind Stunden? Was sind Jahrhunderte? Es gibt Stimmen, die behaupten, die Zeiträume würden immer weiter schrumpfen. Die Jahre und Monate und Wochen würden in sich zusammenfallen, und alles habe mit der Länge der Sekunde zu tun. Die Sekunde, die vorher angeblich 9 192 631 770 Schwingungen eines Cäsium 133-Isotops lang gewesen sein soll, was auch immer ein Cäsium 133-Isotop sein soll. Vielleicht ist die Sekunde also jetzt nicht mehr so viele Schwingungen lang, oder aber es sind immer noch gleich viele Schwingungen, aber die Schwingungen sind jetzt schneller als vorher. Vielleicht hat sich die Bedeutung der Zahl 9 192 631 770 verändert, oder die von 133 oder 2198. Der Tag besteht zwar immer noch aus 24 Stunden, aber die Stunden vergehen jetzt eben schneller. Nein, sie vergehen langsamer, denn die Sonne ist ja schneller. Oder umgekehrt? Ich verwechsle immer links und rechts, man muss mir das verzeihen. Oder war es der Mond? Irgendwas war mit dem Mond.

Fest steht, dass das Licht sich immer schneller an meinem Fenster vorbeibewegt. Rot, gelb, grün. Welches Jahr haben wir? Kann man schon die Straße überqueren? Wie lange bin ich schon hier drin? Wie lange noch? Zehn, 30, 70? Was sind schon Jahre, wenn man 300 von ihnen einfach erfinden kann? Ein Wimpernschlag. Ein blinkendes Signal. Kein Staubkorn schwer, als wäre es nichts.

Elias Hirschl

Geboren 1994 in Wien. Slam Poet, Musiker, Autor. Zuletzt erschienen: „Salonfähig“.

Jubiläum

Welche Zukunft haben Liberalismus und Meinungsfreiheit? Diese Frage stellte sich im Revolutionsjahr 1848, als „Die Presse“ erstmals erschien. Und sie stellt sich heute mehr denn je. In unserem Schwerpunkt zum Jubiläum blicken wir zurück und nach vorne.

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