Culture Clash

Wir Prinzessinnen auf der Erbse

Warum Banales heute schwer wiegt, der Begriff „Trauma“ inflationär geworden ist und es als newsworthy gilt, wenn in China ein Sack Reis umfällt.

Vom Zeitalter der Überempfindlichkeit oder gar der Wehleidigkeit lese ich überall, vom „Falter“ bis zum neoliberalen Christian Ortner. Und tatsächlich: Vieles, was früher bloß auffällig war, ist heute schon ein Skandal. „Und in China ist ein Sack Reis umgefallen“, sagten wir Journalisten, wenn man uns Banales als Sensation verkaufen wollte. Und was lese ich gerade in den Yahoo-News? „Schwerkraft schlägt zu: Betonmischer gerät aus dem Gleichgewicht“.

Dieser Tage las ich, dass ein 17-Jähriger seinen Namen in einen japanischen Tempel ritzen wollte. Das sorge für Aufsehen, so miss.at, weil erst kürzlich jemand seinen Namen an der Kolosseumsmauer hinterlassen hatte! Und presse.com präsentiert mir „Schwere Vorwürfe gegen Jonah Hill“: Hill, offenbar ein Schauspieler, soll einer damaligen Freundin mitgeteilt haben, dass er nicht der Richtige für sie sei, wenn sie „unbedingt mit Männern surfen, ,grenzenlose Beziehungen‘ zu ihnen eingehen oder Bilder von sich in Bademode teilen müsse“. Unfassbar.

Hill habe zudem „Therapy Speak“ betrieben. Details fehlen, ich vermute, er hat Wörter wie „Trauma“ gebraucht. Trauma ist inflationär geworden, im Alltag wie in der Wissenschaft. Eine heuer veröffentlichte Arbeit (Naomi Baes et al.) hat stellte fest, dass sich die relative Häufigkeit des Konzepts „Trauma“ in psychologischen Studien von 1970 bis 2017 verdreißigfachte (!), auch durch stetes Einbeziehen immer weniger schwerwiegender Phänomene.

Der positiven Erscheinung erhöhter Aufmerksamkeit für verletzte Menschen stehen auch negative Effekte gegenüber, schrieb der Psychologe Nick Haslam, einer der Autoren, schon 2016 über die Trauma-Inflation: Es bestehe das Risiko, „alltägliche Erfahrungen zu pathologisieren und zu einem Gefühl des ehrenhaften, aber impotenten Opferseins zu ermutigen“. Ich nehme an, dass hier unser Wohlstand zuschlägt, der immer mehr Härten abfedert, weshalb immer kleineres Ungemach ausreicht für eine als ernsthaft empfundene Verletzung – siehe die Prinzessin auf der Erbse. 

Erfolg im Kampf gegen eine Not schafft eben nicht die Not selbst ab, sondern senkt nur die Schwelle, ab der wir Not empfinden. Diese Erfahrung ist nicht neu. In einem Heft von „Psychologie heute“ von 1986 fand ich folgendes Zitat: „Leben wir im Zeitalter der neuen Zimperlichkeit? (…) Der Feldzug gegen den Schmerz kann zwar viel Leid abschaffen, aber die andere Seite der Medaille wird immer deutlicher: Durch hemmungslose Schmerzbekämpfung wird dem Schmerz erst richtig der Boden bereitet.“

Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

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