Orbáns Reformen: Ein gefährliches Spiel

Orbns Reformen gefaehrliches Spiel
Orbns Reformen gefaehrliches Spiel(c) REUTERS (YVES HERMAN)
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Ungarn 2013 ist keine Diktatur. Aber die Regierung Orbán rüttelt an den Rahmenbedingungen der Demokratie. Die bloße Berufung auf einen Wahlerfolg und eine entsprechende Mehrheit im Parlament reichen als Voraussetzung für Stabilität nicht aus.

Was ist die Aufgabe einer Verfassung in einem demokratischen Rechtsstaat? Es geht zunächst einmal um die Festlegung der Spielregeln, um die Abläufe der Entscheidungsprozesse. Und es geht um die Formulierung von Grundrechten, wie sie etwa vom Europarat und von der Europäischen Union formuliert sind. Das ist die inhaltliche Seite einer Verfassung. Und da kann lange diskutiert werden, ob die ungarische Verfassung in allen ihren Details diesen Aufgaben und diesen Vorgaben noch entspricht.

Doch dahinter steht die entscheidende Funktion der Verfassung: Sie soll Ausdruck eines breiten Konsenses sein, der als Basis von Gesellschaft und Staat in einer Demokratie unerlässlich ist. Und hier setzt die Kritik an: Die von der Regierung Orbán verabschiedete und inzwischen schon mehrfach novellierte Verfassung ist keine des Konsenses. Die Berufung auf eine Zweidrittelmehrheit im Parlament ersetzt nicht die Notwendigkeit, eine Verfassung zu schaffen, die von mehr als von einer einzigen Partei akzeptiert wird.

Die herausragenden Verfassungswerke der modernen Demokratie – die Verfassungen der USA und der Schweiz – bestechen durch ihre Stabilität. Diese hängt damit zusammen, dass nicht eine einzige Partei mit Berufung auf ihre Mehrheit gegen Widerstand aller anderen die Verfassung beschließen ließ. Das Vorgehen Orbáns gleicht eher dem der kommunistischen Einheitsparteien der Vergangenheit, die ihre (nicht demokratischen) Verfassungen der Gesellschaft aufzwangen.

Ungarn 2013 ist keine (kommunistische oder sonstige) Diktatur. Aber die ungarische Regierung rüttelt an den Rahmenbedingungen der Demokratie. Die bloße Berufung auf einen Wahlerfolg und eine entsprechende Mehrheit im Parlament reichen in einer pluralistischen Demokratie als Voraussetzung für Stabilität nicht aus. Dazu braucht es einen breiteren Konsens, der immer auch Kompromisse voraussetzt.

Erfolgreiche demokratische Verfassungen zeichnen sich dadurch aus, dass mehrere Parteien, mehrere politische Strömungen sich mit der Verfassung zu identifizieren vermochten. Es ist die Nichtbereitschaft oder die Unfähigkeit der regierenden Mehrheit in Ungarn, mit der demokratischen Opposition Kompromisse zu schließen, die zu Kritik Anlass gibt.

Über die einzelnen Bestimmungen der Verfassung und ihrer jüngsten Novellierung kann diskutiert werden. Alles kann kritisiert, auch verteidigt werden. Über die einem Mitglied der EU in diesen Fragen auferlegten Grenzen wird die EU-Kommission wachen und nötigenfalls (wie schon einige Male gegenüber der Regierung Orbán) mit Vertragsverletzungsverfahren drohen.

Grundsätzlich ist freilich jede Beschränkung der Kompetenzen eines Verfassungsgerichtes mit großer Skepsis zu beurteilen. Vor allem gibt zu denken, dass László Sólyom – der erste Präsident des Verfassungsgerichtes und zweite Staatspräsident des demokratischen Ungarn, der keineswegs ein Parteigänger der sozialistischen Opposition war oder ist – ausdrücklich die Verfassungsnovelle kritisiert und seinen Nach-Nachfolger im Präsidentenamt aufruft, die Novelle nicht zu unterzeichnen. Ganz offensichtlich kann die Auseinandersetzung um den Umgang Viktor Orbáns mit der Verfassung nicht einfach als Konflikt zwischen links und rechts missverstanden werden.


Ende des Konsenses. Doch insgesamt sind es nicht nur die einzelnen Bestimmungen der Novelle, die eine eindeutige parteipolitische Handschrift erkennen lassen. Schwerer wiegt, dass die ungarische Regierung den Konsens zu zerstören droht, der am Beginn der ungarischen Transformation 1990 stand und Ungarn zu einem Vorbild der Demokratisierung machte. Dass 1990, 1994, 1998, 2002, 2006 und 2010 freie und faire Wahlen stattfinden konnten, das ist ein Erfolg der jungen Geschichte der ungarischen Demokratie. Das Vorgehen der regierenden Mehrheit erweckt den Eindruck, als müsste Ungarn neu beginnen, als wäre das entscheidende Ereignis des demokratischen Wandels nicht die demokratische Wahl von 1990 und der Sieg des konservativen Ungarischen Demokratischen Forums, sondern der Erfolg der Jungdemokraten 2010.

Das ist nicht nur historischer Unfug. Das zerstört auch die Grundlagen einer Demokratie, die ja durch die demokratischen Regierungswechsel seit 1990 ihre Erfolge und Stabilität bereits unter Beweis stellen konnte. Die Stunde null der ungarischen Demokratie war 1990 – und nicht 2010.

Begleitet wird die Aushöhlung des Konsenses von nationalistischem Getöse, das nicht ins Europa der Union passt. Undenkbar, dass Angela Merkel vor den deutschen Bundestag tritt und die Einführung eines nationalen Gedenktages beantragt, der an das Unrecht von Versailles erinnert. In Ungarn ist das nicht nur denkbar, das ist geschehen: Die Regierung Orbán hat einen auf den Vertrag von Trianon bezogenen Gedenktag beschließen lassen. Diese ungarische Regierung vertritt einen Retro-Nationalismus, der dem Geist der europäischen Einigung widerspricht.

Das Europa, das sich – zunächst im Westen, ab 1990 auch im Osten – zu einer Gemeinschaft verdichtet hat, deren Wesen in der Aufhebung von Grenzen und nicht in deren nostalgischer Beschwörung besteht, kann diesen Nationalismus nicht brauchen. Die Europäische Union lässt die Unterschiede zwischen Inland und (EU-)Ausland verschwinden. Dem widerspricht, dass Orbán immer wieder die nationalistische Karte spielt – wenn es um den Grundstückskauf durch EU-Bürger oder um die Rolle von EU-Banken im ungarischen Finanzsystem geht.

Ungarn wird nicht auf Dauer Teil des vereinigten Europa sein und gleichzeitig Europa als bedrohliches Ausland behandeln können. Und die Regierung Orbán wird nicht einfach die Geschichte umschreiben können: Die ungarische Demokratie hat 1990 begonnen und nicht erst 2010, mit dem (notabene zweiten) Wahlsieg der Orbán-Partei Fidesz. Orbán wird vielmehr darauf zu achten haben, dass eine zukünftige Geschichtsschreibung das Jahr 2010 nicht als den Beginn eines Abstiegs der ungarischen Demokratie sieht.

Anton Pelinka,geboren 1941 in Wien, studierte Rechts- und Politikwissenschaft in Wien. Von 1975 bis 2006 Professor für Politikwissenschaft an der Universität Innsbruck. Seit September 2006 Professor für Politikwissenschaft und Nationalismusstudien an der Central European University in Budapest.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.03.2013)

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