1961: Notschrei des Lehrherrn: Wo ist der Christopherl?

Jugend 1961. Gewerbe und Handel klagen über Lehrlingsmangel – Berufe vom Aussterben bedroht.

[5. August 1961] Das waren Zeiten, als die Mutter mit ihrem Vierzehnjährigen im Kontor erschien, der Prinzipal die Zeugnisse musterte, den Namen des geschniegelten Bürschchens in die Warteliste eintrug und die Supplikanten dann huldvoll entließ. Der Unternehmer konnte sich die „Stützen" seines Geschäftes sorgfältig aussuchen.

Im Jahre 1961 ist das anders. Wenn sich ein „Ausgeschulter" in ein Geschäft verirrt, eilt ihm der Chef mit freundlichstem Lächeln entgegen. Er klopft dem Jüngling auf die Schulter, spricht von Verdienst- und Aufstiegsmöglichkeiten, lobt die Luft zwischen seinen vier Wänden, dem reinsten Kurort für Verkäufer. Erst wenn sich der Bursche hinter den Ohren kratzt, er müsse sich die Sache überlegen, kommt der Inhaber auf die Arbeit zu sprechen: die Arbeit, die ja heute oft nicht als das Wichtigste gilt.

Eine noch nie gekannte Konjunktur und eine kurzsichtige Gewerkschaftspolitik haben Österreich ein akutes Lehrlingsproblem beschert. Im Jahre 1953 trafen 500 Lehrlinge auf 432 freie Stellen, im heurigen April standen 6361 offenen Plätzen nur 51 Lehrlinge gegenüber! Der Lernbegierige kann sich heute seine Stelle aus 125 Angeboten aussuchen.

Das hat zur Folge, dass weniger attraktive Berufe und Betriebe vom Aussterben bedroht sind. Die Jeremiade der Bäcker, Fleischhauer, Tischler, Herrenschneider, Greißler geht im SOS-Schrei der Diamtenfasser, Wagner, Feilenhauer, Emailleure, Instrumentenerzeuger, Gerber, Lebzelter und anderer Handwerker unter.

Mit dem großen Stellenangebot und der geringen Nachfrage sinkt die Qualität der Lehrlinge. Sie wissen nicht wie die Erwachsenen, die in Notzeiten von Krieg und Arbeitslosigkeit groß geworden sind, den Wert eines guten Lehrplatzes zu schätzen. Sie wechseln Lehrstellen wie Hemden und haben weniger ihre Zukunft als Gehalt und freie Samstage im Auge. Der „Christopherl", der Lehrbub aus Nestroys „Einen Jux will er sich machen", war kein Musterknabe. Was heute jedoch erschreckt, ist die Interesselosigkeit der Eltern an der Ausbildung ihrer Kinder.

42 Prozent durchgefallen

Die Gewerkschaft betrachtet ihre Verantwortung für die Jugend allzu einseitig. „Auf Schulungsabenden lernen die Burschen nur das Fordern, die Pflichten predigt niemand", behaupten die Prinzipale.

So ist es kein Wunder, dass das Leistungsniveau der Prüflinge sinkt. 1955 bestanden fast 94 Prozent der Burschen und Mädchen die Lehrabschlussprüfung, voriges Jahr nur noch 87 Prozent. Die Malerlehrlinge stellten mit 42 Prozent durchgefallenen Kandidaten den Wiener Faulheitsrekord! Aber der Notschrei der Kaufleute: „Wo ist der Christopherl - nimm ihn, auch wenn er a bissl deppert ist", verhallt ungehört in Österreich.

Peter Wolf war „Presse“-Redakteur, später Chefexperte im Dorotheum.

("Die Presse", 165 Jahre Jubiläumsausgabe, 29.06.2013)

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