Culture Clash

Kampf und Krampf

Die Querelen ums ­Gendern im öffentlichen Dienst erinnern an Tocquevilles Diktum, dass das Verlangen nach Gleichheit immer unersättlicher wird, je mehr Gleichheit wir haben.

Die Justizministerin pariert die Entfernung von Gender-Sternchen und Co. in der niederösterreichischen Landesverwaltung mit einem sämtlich in weiblichen Endungen gehaltenen Gesetzesentwurf. Na so was! Der große Feldversuch, mit dem Sprechen und Schreiben zu einem politischen Akt des Fortschritts gemacht werden sollen und der schon die äußere Form der schriftlichen Arbeiten zu einem Tugendausweis macht – er gebiert nur stets weiteren Krampf.

Die spannende Frage wäre: Kann Gendern tatsächlich Substanzielles zur Gleichheit der Geschlechter beitragen? Oder ist möglicherweise alles Substanzielle bereits geschehen? Sind wir längst in der Phase, in der nur mit enormem Aufwand noch winzige Erfolge zu erringen sind? Wenn Sie jetzt einwenden, dass wir doch erst ganz am Anfang stehen, dann sind Sie das richtige Publikum für Alexis de Tocqueville, Begründer der Vergleichenden Politikwissenschaft, der in seinem Werk über die Demokratie in Amerika vor 190 Jahren mit französischem Esprit über die Gleichheit geschrieben hat.

Tocqueville beobachtet, dass dann, wenn alle alles dürfen, alle auch in Konkurrenz zu allen stehen und es daher immer irgendetwas geben wird, was andere haben und man selbst nicht, „und man kann davon ausgehen, dass der Bürger starrsinnig seine Blicke einzig dorthin wenden wird. Wenn die Ungleichheit die Grundlage einer Gesellschaft ist, fallen die stärksten Ungleichheiten kaum auf; wenn alles aber ungefähr auf demselben Niveau ist, wird das Auge durch die geringsten verletzt. Deswegen wird das Verlangen nach Gleichheit umso unersättlicher, je größer die Gleichheit ist.“

Die vollkommene Gleichheit „weicht jeden Tag vor den Menschen zurück, aber ohne sich je ganz aus ihrem Blickfeld zu begeben, und indem sie sich zurückzieht, stiftet sie die Menschen an, ihr nachzulaufen. Unaufhörlich glauben sie, sie im nächsten Moment einzufangen, und sie entkommt ihnen ebenso unaufhörlich. Sie sehen sie nahe genug, um ihrem Charme zu erliegen, aber sie nähern sich nicht so weit, um sich ihrer zu erfreuen, und sie sterben, bevor sie die Fülle ihrer Süße gekostet haben. Diesen Gründen muss man die einzigartige Melancholie zuschreiben, die die Bewohner demokratischer Gefilde oft inmitten ihres Überflusses an den Tag legen, und den Lebensüberdruss, der sie manchmal erfasst, in einer doch leichten und ruhigen Existenz.“ Ich kenne keine elegantere Erklärung für die gegenwärtige Geringschätzung der doch epochalen Fortschritte, die wir in der Gleichheit – nicht nur der Geschlechter – erzielt haben. 

Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

meinung@diepresse.com
www.diepresse.com/cultureclash

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.