Kunst: Die Erlöser

Ihr Programm ist einfach. Es lautet: Wenn meine Kunst (und zwar nur meine Kunst) sich durchsetzt, werden alle Men- schen glücklich und zufrieden sein. - Erlösungskünstler: über Otto Mühl, Friedensreich Hundertwasser, Hermann Nitsch und André Heller.

Niemand wird verwundert oder böse sein, wenn Menschen, die einen künstlerischen Beruf ergreifen, der Überzeugung sind, es sei für alle von größter Wichtigkeit, was sie malen, schreiben, komponieren oder sonstwie beruflich hervorbringen. Im Gegenteil, wer Künstler werden will und dieser Überzeugung nicht ist, nicht meint, seine Erzeugnisse würden dringend gebraucht und dazu beitragen, die Welt zum Besseren zu verändern, ist gut beraten, eine solche Berufsentscheidung nicht zu treffen, denn von welchem Kapital an Hoffnungen und Utopien sollte er oder sie zehren, wenn nach Jahren ernster Arbeit deutlich vor Augen steht, wie wenig Kunst der Wirklichkeit anhaben kann.

Um diesen gewissermaßen existenzbegründenden Größenwahn der Künstler geht es nicht, wenn hier von Erlösungskunst die Rede ist. Erlösungskünstler haben höhere Ziele. Ihr Programm ist einfach, es lautet: Wenn meine Kunst (und zwar nur meine Kunst) sich durchsetzt, werden alle Menschen glücklich und zufrieden sein. Mit "meiner Kunst" meinen Erlösungskünstler: alle meine Künste, denn sie sind immer Gesamtkunstwerker, eine Disziplin allein genügt ihnen nicht. Respekt für sich und ihr Tun fordern sie vehement, sie selbst besitzen keinen, vor niemandem. Massen zu erzeugen und zu beherrschen ist bei allen ein wesentlicher Antrieb, viel von dem, was Canetti in "Masse und Macht" über Masse und Macht geschrieben hat, lässt sich auf den Typus des Erlösungskünstlers anwenden. - Die vier österreichischen Erlösungskünstler, von denen in der Folge die Rede sein wird, sind zwischen 1925 und 1947 geboren und, so unterschiedlich ihre persönliche Herkunft und Geschichte ist, geprägt, wie diese ganze Generation, von den Ereignissen des Weltkriegs und den Massenmorden der Nazis. Auch wenn sie, darin ähnlich dem Futuristen Marinetti, bereit sind, die gesamte Wirklichkeit in ihre Kunst einzubeziehen, stehen sie dessen Verherrlichung des Krieges fern, das "Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus" ist ihnen ein wesentlicher Antrieb. Ihre ersten Hervorbringungen in den Fünfziger- und Sechzigerjahren wurden im großkoalitionären Österreich des Verschönerns und Verschweigens zu Skandalen, größeren und kleineren. Etwas radikal Neues stand auf gegen die alte Ordnung, dazu gehörte Mut, und das machte, das ist nicht zu leugnen, auch anderen Mut. Provokation war notwendig, um Aufmerksamkeit zu erhalten, war die Grundlage für späteren Ruhm, aber provoziert und Ruhm erlangt haben auch andere. Erlösungskünstlern ist bloßer Ruhm zu wenig, das Sammeln von Chören, wie Canetti sagen würde, reicht nicht. All ihrem Tun liegen konkrete Machtfantasien zu Grunde, die verwirklicht werden wollen.

1 Der Stammeshäuptling

Otto Mühl, der älteste der vier, hat den Weltkrieg als Wehrmachtssoldat miterlebt. Er war bei der Ardennenoffensive eingesetzt, die Gräuel, die Menschen anrichten können, hat er mit eigenen Augen gesehen, und er hat überlebt. "Wir waren", erzählt er später über diese Erfahrung, "120 junge Burschen, und die meisten haben gekämpft wie Teufel. Über hundert sind dort im Kampf gefallen. Ich habe mich unter einem Holzstapel verkrochen und habe überlebt. Hätten sich auch andere versteckt, hätten auch sie überleben können." Verstecken und Verstellung, lehrt er seine Anhänger, sind legitime Mittel, um zu überleben, und überleben ist das Wichtigs-te, auch über den physischen Tod hinaus. Von Anbeginn seiner künstlerischen Tätigkeit leugnet Mühl nie seinen Wunsch, berühmt zu sein. "So weltberühmt zu sein ist köstlich", sagt er einmal. "Sonst ist das Leben wirklich ein Blödsinn. Wenn ich nicht einigermaßen bekannt wäre, würde ich es nicht aushalten."

Als bildender Künstler ist er schon früh der Überzeugung, alle anderen übertroffen zu haben. Als im Friedrichshof ein Museum eingerichtet wird für seine Werke, erklärt er, eines Tages würden die Menschen hierher kommen, um Bilder von Cezanne und Caravaggio gegen seine zu tauschen. Aber die bildende Kunst allein, auch in Form aktionistischer Inszenierungen, kann seinen Machtwunsch nicht erfüllen, die Totalveränderung der Gesellschaft wird sein nächstes Ziel. Mühl sieht, durchaus dem Geist der 68er-Generation entsprechend, die Hauptursache aller Übel in der kleinfamiliären Organisation der Gesellschaft, der damit verbundenen Fixierung auf monogame Partnerschaft und der weitgehenden Niederhaltung des sexuellen Potentials, über das Menschen verfügen.

Die Kommune Friedrichshof versteht sich als Gegenentwurf zur bestehenden Ordnung, als Stammzelle einer neuen Gesellschaft. Sie funktioniert im Großen und Ganzen, zwar Errungenschaften der Zivilisation hinsichtlich Hygiene, Empfängnisverhütung und so weiter nützend, nach dem Prinzip eines primitiven Stammes mit Mühl als Häuptling. Ein erfülltes Sexualleben ist oberstes Gebot, Promiskuität ist Vorschrift, sich abzeichnende Zweierbeziehungen werden unterbunden, Homosexualität gilt als Entartung. Die Gesellschaft ist hierarchisch geordnet, die Machtverhältnisse ändern sich dauernd, ja täglich, einziger ständiger Fixpunkt ist der Häuptling. Nach und nach erobern in der Kommune die Frauen alle wichtigen Machtpositionen mit Ausnahme der Führerschaft, und Mühl kommt so der Verwirklichung jener Machtfantasie, um die es ihm hauptsächlich geht (der einzigen jedoch, die er nie explizit ausspricht), näher: Er will der einzige Mann sein. Indem er fast ausschließlich Frauen in Machtpositionen erhebt, betreibt er die Marginalisierung der anderen Männer. Er allein - das, wäre die Welt der Friedrichshof, wäre das Ziel - wählt aus der Masse der Frauen, die Frauen ihrerseits wählen aus der Masse der anderen Männer. Sein Hass auf die Homosexualität meint allein die weibliche. Dass eine Frau eine andere Frau ihm vorziehen könnte, ist für den einzigen Mann ein unerträglicher Gedanke.

Die Frauen und Mühls Umgang mit ihnen sind es auch, die das Experiment und den Stammeshäuptling selbst schließlich zu Fall bringen. Wegen Unzucht mit Minderjährigen und anderer Delikte wird er 1991 zu sieben Jahren Haft verurteilt. In einem nach seiner Haftentlassung veröffentlichten Text mit dem Titel "Der Weg durch den Sumpf" bezeichnet Mühl selbst das Experiment Friedrichshof als gescheitert. Sein Wunsch, der einzige Mann zu sein, tritt in diesem Einbekenntnis erstmals deutlich zutage. "ich bin allerdings", schreibt er, "nicht ganz unschuldig. die jungen mädchen waren sehr eifersüchtig aufeinander. jede wollte eine zweierbeziehung mit mir, und ich war unfähig, dieses problem zu lösen. ich war wie der schüler in goethes zauberlehrling: die ich rief, die geister, wurde ich nun nicht los." Und weiter: "ein anthropologe sagte, häuptlinge alter gesellschaften hätten große sexuelle ausstrahlung v. a. auf jugendliche ausgeübt. ich habe daraus gelernt, dass von einem dieser verzauberung ausgesetzten vorsichtige zurückhaltung verlangt wird. die verliebtheit, die ihm entgegengebracht wird, ist nicht echt. es ist eine art star-kult."

Mühl ist, gesteht er ein, gescheitert, aber er ist gescheitert, daran zweifelt er nicht, als einer der Großen der Menschheitsgeschichte: "routinierte antisektenanwälte stilisierten mich zu einem jugendverführer. man rückte mich dadurch in die nähe eines sokrates, der wegen jugendverführung und religionsverletzung den giftbecher leeren musste."

2 Der Heiler

Friedensreich Hundertwasser wurde 1928 als Friedrich Stowasser geboren. Bereits 1949 ändert er seinen Namen. Das ist notwendig, denn der Wille zur Einzigartigkeit ist von Anfang an in ihm, man soll eines Tages von ihm reden als dem Hundertwasser. Als Stowasser wäre das nicht möglich, den Stowasser gibt es schon, und gegen das seit 1913 ununterbrochen im Schulunterricht Verwendung findende Lateinwörterbuch des Gymnasiallehrers Joseph Maria Stowasser anzutreten ist unmöglich. Wie Mühl beginnt Hundertwasser als Maler, wie Mühl hat er Erfolge, wie Mühl
ist er der Skandalerzeugung, etwa durch Nacktauftritte, nicht abgeneigt, wie Mühl ist ihm die Malerei bald nicht mehr genug, er wendet sich anderen Disziplinen zu, vornehmlich der Architektur.

Hundertwassers erklärter Feind ist die gerade Linie. Er sieht sich von ihr umzingelt, Massen von geraden Linien umgeben und bedrohen ihn, akribisch genau listet er sie auf: "Auf einer Rasierklinge habe ich 546 gerade Linien gezählt. Durch die lineare und imaginäre Verbindung zu einer zweiten Rasierklinge derselben Produktion, die sicher haargenau so aussieht, ergeben sich 1090 gerade Linien, und wenn man die Verpackung dazuzählt, an die 3000 gerade Linien." "Die gerade Linie", sagt er an anderer Stelle, "ist gottlos und unmoralisch. Die gerade Linie ist keine schöpferische, sondern eine reproduktive Linie. In ihr wohnt weniger Gott und menschlicher Geist als vielmehr die bequemheitslüsterne, gehirnlose Massenameise." Diese Massenameise, die Masse der ins Vorhandene sich bescheidenden Menschen, ist Hundertwasser einerseits Feindbild, andererseits das Ziel seiner Erlösungskunst. Sie hat die Wahl, ihm zu folgen oder das entsetzlichste Leben zu leben, nämlich das, das sie lebt, und selbst das, ginge es nach Hundertwasser, ist bedroht. "Besser ist es", sagt er 1957, "die Leute abzuknallen oder im Mutterleib umzubringen, als sie in Serienwohnungen zu setzen oder sie aus Tellern essen zu lassen, von denen es schon tausend Abgüsse gibt, und gerade die formschönen sind die gefährlichsten."

Dieser Zusatz ist wichtig: Es geht dem Erlösungskünstler nicht um Schönheit. Schön ist, was von ihm ist. Wird etwas als schön geschätzt und anerkannt und ist nicht von ihm, ist es umso gefährlicher. Aber auch darüber hinaus ist in diesem Satz das Wesen der Hundertwasserschen Erlösungskunst zusammengefasst. Was er anzubieten hat, ist weniger spektakulär als etwa das Gesellschaftsmodell Mühls. Selbst sein Opus magnum, das Hundertwasser-Haus, ist nicht die Totalveränderung des Stadtbilds, die er des Öfteren in seinen Texten herbeifantasiert, sondern nur ein originelles Einzelstück in der Massenversammlung der "Schachtelhäuser" mit ihren geraden Linien. Er muss daher, auch um vor den eigenen Ansprüchen bestehen zu können, anders vorgehen, er muss das Bestehende verschrecklichen. In allem, was er schreibt, ist Hundertwasser schnell zur Hand mit einer Terminologie des Äußersten. Spricht er von Gemeindebau- siedlungen, ist stets die Rede von "Gefängnissen", gar "KZ-ähnlichen Bauten". Gegen diese von ihm selbst behauptete Welt kann Hundertwasser helfen. Ist Mühl seiner Natur nach ein Anführer, ein Wegbereiter des Neuen, so war Hundertwasser ein Heiler. Eine große Krankheit, deren auffälligstes Symptom das massenhafte Auftreten gerader Linien ist, hat die Menschheit befallen, er kann sie besiegen.

Als einziger der hier besprochenen Erlösungskünstler ist er der von ihm gewünschten Erlösung nahegekommen. Die schreckliche Welt, die er behauptet, hat sich durch sein Wirken tatsächlich in seinem Sinn gebessert, in vielen Ortschaften stehen heute Hundertwasser-Bauten. "Besonders stolz" war er "auf die dramatische Heilungssteigerung durch meine Gestaltung der Krebsstation an der Universitätsklinik Graz".

3 Der Engel der Finsternis

Hermann Nitschs erste öffentlich wahrgenommenen Hervorbringungen gehören, wie die von Otto Mühl, zur Aktionskunst. Von Anfang an ist sein Ansatz groß. Alles Gewaltige, von den antiken Mythen über katholische Rituale bis hin zu Wagner und Nietzsche, soll in seiner Kunst aufgehen und in sein jahrzehntelang vorbereitetes Hauptwerk, das Sechstagespiel in Prinzendorf, Eingang finden. Nitschs Orgien-Mysterien-Theater ist leicht zu beschreiben. Es ist der inszenierte Exzess. Alle Sinne werden angesprochen, nichts, was geschieht, ist vorgetäuscht. Einen "Gestalter mit der Wirklichkeit" nennt er sich selbst, und zu erlösen ist sein explizites Ziel. Von den hier besprochenen Erlösungskünstlern ist Nitsch der am häufigsten und am höchsten vom Staat Österreich ausgezeichnete. Er ist Träger des Großen Österreichischen Staatspreises, seine 122. Aktion findet am 19. November 2005 im Burgtheater statt. Wie wichtig ihm selbst staatliche Anerkennung ist und wie sehr er sich mit dem Staat Österreich identifiziert, zeigt ein Interview, das er anlässlich der Eröffnung seiner Ausstellung bei der Expo in Sevilla gab. Der damalige Bundespräsident Klestil, kein Freund seiner Kunst, hatte sich geweigert, die Ausstellung zu eröffnen. Nitsch war empört. "Wenn ich vom Staat eingeladen werde", erklärte er, "hat der Präsident dazu ebenso zu stehen wie zur Verstaatlichten (Industrie)."

Das Ziel von Nitschs Aktionen ist Katharsis. Voraus geht ihr der Exzess nach dem Vorbild des dionysischen Massenwahns. Es wird getrunken, gelärmt, gevögelt, Tiere werden geschlachtet, Kadaver zerrissen, Blut und Wein fließen in Strömen. Streng achtet Nitsch darauf, dass keine Gesetze übertreten werden, dass Tiere fachmännisch geschlachtet werden. Jede Aktion ist ein Wagnis. "Ich habe vor jeder Aktion Angst", sagt er. "Und sie strengt mich ungeheuer an. Aber das alles wird aufgewogen durch das Glück, das man empfindet, wenn das Spiel seinen geordneten Lauf nimmt und zur Katharsis führt." Als oberster Priester, ordnend, was seiner Natur nach nicht zu ordnen ist, führt Nitsch die Teilnehmer durch ein Fegefeuer aus Blut, Schreien und Tränen ans Licht, das heller leuchtet als vorher, sie sind, ist die Erlösung gelungen, zu einem "intensiven ästhetisch gesteigerten seins-mythischen Begreifen des Lebens" gelangt.

Nitschs Größenfantasien, sein Wunsch, Massen von Menschen zu steuern und zu beherrschen, zeigen sich am deutlichsten in seinem Text "Die Eroberung von Jerusalem" von 1974. "da es noch viel zeit und kraft brauchen wird, bis ich in prinzendorf mein o. m. theater-projekt, das 6-tage-spiel, realisieren kann, treibt es mich dazu, in der wartezeit fantastische, schwer oder kaum zu verwirklichende partituren zu schreiben", schreibt er in der Einleitung zu dieser, wie er selbst sagt, "bittersten, fantastisch-tragischen arbeit". Die Möglichkeit einer Realisierung wird durch die Bekanntgabe, dass sie "schwer oder kaum" zu erreichen sein würde, ausdrücklich eingeräumt. Die Bühne, auf der die Aktion stattfindet, ist gigantisch, sie ist "zu einer unterirdischen stadt erweitert", es gibt unzählige Räume und Gänge, von denen manche gewaltige Ausmaße haben müssen: "folgende tiere werden in raum 22 getrieben: 1000 kühe, 700 stiere, 500 kälber, 3000 schafe, 2000 ziegen, 600 pferde, 300 zebras, 300 hunde, 400 weiße schweine, 33 wildschweine, 500 hühner, 600 gänse, 700 enten, 800 hyänen, 950 schakale, 290 wölfe, 40 hirschkühe, 22 weiße hirsche, 15 rehböcke, 16 elche, 7 einhörner, 723 schwarze vögel werden in den raum gejagt." "schwer oder kaum" wird das zu verwirklichen sein, das ist wahr, insbesondere das mit den Einhörnern, aber die Möglichkeit besteht.

Auch die Zeit, in der all das stattfindet, wird, verglichen mit dem Großprojekt Sechstagespiel, ausgedehnt, die Aufführung kann, wird eingeräumt, Jahre dauern. Die Handlung selbst ist von enormer Gewalttätigkeit und beschränkt sich nicht auf das Schlachten und Zerfetzen von Tieren. "leichen von zweijährigen, einjährigen und neugeborenen kindern werden in den raum gebracht, die haare werden von den köpfen der kinderleichen gerissen, die lippen und die geschlechtsteile der toten kinder werden zerfleischt. die brustkörbe der kleinen leichen werden geöffnet, die blutigfeuchten innereien und gedärme werden herausgerissen, fleischstücke werden von den toten kindern gerissen. hände und füße werden aus ihren gelenken gerissen. leichenteile der toten kinder werden im raum herumgeworfen", so lautet eine von vielen ähnlichen anweisungen. Ein unermessliches Schlachtfest findet statt, wobei nur, und auch das spricht für den Wunsch, dass es eines Tages realisiert werden könnte, auf eines streng geachtet wird: dass kein Mensch auf offener Bühne getötet, sondern nur mit menschlichen Leichnamen wie oben oder ähnlich verfahren wird.

Gegen Ende des Textes, bevor sich alles in Frieden und Freude auflöst, ist Nitsch so fortgerissen von der Macht seiner Fantasie, dass er auch, und zwar hervorgehoben in Blockbuchstaben, die Folgen beschreibt, die "Die Eroberung von Jerusalem" auf das Weltall hätte: "DAS GEBRÜLL DER GESTIRNE. DIE STERNE DONNERN IN IHREN BAHNEN. DAS ALL DRÄNGT ZUM CHAOS. DIE ERDE ERDRÖHNT UNTER DER MACHT DES DIONYSISCHEN EXZESSES." Es wird schwer oder kaum zu realisieren sein, aber falls es gelingt, wird niemand sich wundern, dass dann auch das Wetter sich seiner Regie unterwirft. Als die Spielteilnehmer wieder ans Tageslicht kommen, in einer der letzten Anweisungen, heißt es: "es ist ein strahlender junivormittag."

4 Der Engel des Lichts

Andr© Heller ist als einziger der vier nach dem Kriegsende geboren und unterscheidet sich auch in anderem grundlegend von ihnen. Alles Schreckliche liegt ihm fern, er ist ein Lichtbringer, ein Freuden- und Friedensspender. Wichtig ist nur eines: dass er es ist, von dem all das ausgeht.

Heller beginnt als Künstler nicht wie die anderen drei mit Malerei, sondern mit Literatur und Musik. Aber die Anerkennung, die er braucht, wird vor allem seiner Lyrik nicht zuteil, im Gegenteil, er wird von manchen dafür verspottet. Also geht er den umgekehrten Weg und erklärt "in seinem schönen Brief aus Gars am Kamp", den Erika Pluhar in ihren Tagebüchern erwähnt, die Kunst zu einer Sackgasse. Weil sie ihn nicht aufgenommen hat in ihr Reich, setzt er ihr die Hellersche Kunst entgegen, die größer und schöner sein soll als alle bisher dagewesene. Es ist ihm wichtig, für ein Massenpublikum zu produzieren. Mit seinem "Theater des Feuers", dem Großfeuerwerk, das er über Lissabon abbrennen lässt, gelingt es ihm zum ersten Mal, eine Masse von Menschen zu erzeugen, die nach oben blickt, zu seiner Kunst aufschaut. Seine Blumenbilder, eines seiner nächsten Projekte, erscheinen auf den ersten Blick als Rückschritt in seiner Entwicklung. Sie haben nicht die Fähigkeit, viel Publikum zu binden, sondern werden nur angeschaut von vereinzelt Vorübergehenden. Aber die Blumenbilder waren auch nicht dem Publikum zugedacht, sie waren das Publikum. Auffallend oft war Heller selbst in ihrer Nähe anzutreffen, gegen seine Gewohnheit stand er schon in aller Frühe auf, um zu ihnen zu gehen. Er wollte mit ihnen allein sein. In den Blumen hat er sich Menschenmodelle erschaffen, die ihm kaum bis an die Knöchel reichen. Das Darübersein war es, was er geprobt hat, das Gefühl, das ei-ne aufschauende Masse erzeugt, wenn er selbst der Angeschaute ist.

Mit seinen "Himmelskörpern" ist es ihm gelungen, diese Situation herzustellen. Sie waren bunte, ungewöhnlich ge- formte Großballons, mit ihnen konnte er aufsteigen in den Himmel, der einzigen seiner Kunst angemessenen Bühne, und sich Millionenstädte zu Füßen legen. Weil anfangs seine Auftritte überraschend kamen, ohne Vorankündigung in den Medien, schaute eine ganze Stadt auf zu ihm, der Verkehr kam zum Erliegen, Bewegung hörte auf. Er, ein Einzelner, hatte die Masse zum Stillstand gebracht. Freilich funktionierte die Überraschung nicht lang, bald wusste man in ganz Europa durch Berichte der Massenmedien, dass irgendwann in nächster Zeit Heller und seine "Himmelskörper" auftauchen würden. Aber sie waren dadurch für ihn nicht zwecklos geworden, sie waren ausgestattet mit einem Doppeleffekt der Macht. Durch die unentwegt sich wiederholenden Berichte wurde eine Erwartung geschürt, eine Sehnsucht, die gepriesenen Gebilde endlich mit eigenen Augen zu sehen. Die Neugier konnte zum Bedürfnis wachsen, und das Auftauchen der "Himmelskörper" kam einem Akt der Erlösung gleich.

Als Verwirklichung des Wunsches, Massen zu steuern und von ihnen bewundert zu werden, waren die "Himmelskörper" nicht zu übertreffen, und Heller, ein kluger Kopf, hat es nie versucht. Er wandte sich wieder seinem wichtigsten Tun zu, mit dem er wohl bis zu seinem Lebensende beschäftigt sein wird, weil es nahezu unmöglich ist, zu einem Abschluss zu gelangen. Ein Kennzeichen der Erlösungskünstler, habe ich eingangs gesagt, ist ihre totale Respektlosigkeit. Auf Heller scheint das nicht zuzutreffen, immer wieder erweist er in öffentlichen Auftritten oder Interviews irgendwelchen Großen der Kunst seine Reverenz. Aber der Respekt ist vorgetäuscht, das Ziel ist ein anderes. Alle große Kunst will er sich einverleiben. Kein Großer, an dessen Seite er nicht auftauchte, Warhol, Qualtinger, Astor Piazzola, alle sind seine kostbaren Freunde. Auch Tote werden eingemeindet, am augenfälligsten und umfassendsten in seinem am Burgtheater aufgeführten Stück "Sein und Schein". Zahlreiche sehr berühmte, jedem Mittelschüler bekannte Texte anderer Autoren wurden da von den Schauspielern vorgetragen, Shakespeare, Goethe und so weiter, das literarische Stammpersonal der Burg gastierte in seinem Stück und wurde so zu seinem. Ruhig und gelassen kann er so weitertun. Mit allem, was er sich zuführt, wächst er und kommt seinem Ziel näher, dass alle Kunst seine wird.

Schluss

Österreich ist, aus Gründen, denen nachzugehen sicher lohnend wäre, ein gutes Pflaster für Erlösungskünstler, für Erlöser überhaupt. Man mag sie bewundern, man mag sie verachten; fürchten, derzeit, muss man sie nicht. Dennoch soll man nicht vergessen, dass es nicht lang her ist, dass aus diesem Land der abstoßendste Erlöser der Menschheitsgeschichte hervorgegangen ist. Er wollte Maler werden, aber die Kunst hat ihn nicht aufgenommen in ihr Reich, so hat er einen anderen Weg eingeschlagen. Er wollte eine neue Gesellschaft aufbauen, er hatte vor, große Städte umzugestalten, und das Schlachtfest, das er hat anrichten lassen, war maßlos. Erlösungskünstler sind derlei Fantasien nicht abgeneigt. Es ist daher gut, sie beschränkt zu wissen auf Sphären der Kunst und ihnen deren Häuser zu öffnen. Kunst kann der Wirklichkeit nichts anhaben. Meistens ist das schade. Manchmal ist es gut.

Antonio Fian
1956 in Klagenfurt geboren. Lebt seit 1976 in Wien. Schreibt Dramolette, Erzählungen, Gedichte, Essays. Jüngste Buchveröffentlichungen: "Bis jetzt. Erzählungen" und "Fertige Gedichte" (beide im Droschl Verlag, Graz). Sein Beitrag ist die leicht gekürzte Fassung eines Vortrags, den er vergangenes Wochenende auf dem Wiener Canetti-Symposion hielt.

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