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Kunst

Ein Idealbild des Körpers und der Kunst

Michelangelo Buonarrotis „Männlicher Rückenakt“. Michelangelos Arbeitsweise war für viele Künstler Vorbild.
Michelangelo Buonarrotis „Männlicher Rückenakt“. Michelangelos Arbeitsweise war für viele Künstler Vorbild.Albertina
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Die Ausstellung „Michelangelo und die Folgen“ in der Albertina lässt nachvollziehen, wie die Werke des großen Meisters zum Vorbild für viele nachfolgende Künstler wurden.

Sie wirken athletisch, kraftvoll und voll innerer Spannung: Die muskulösen, männlichen Akte von Michelangelo Buonarroti. Wie der Renaissancekünstler Körper förmlich modellierte – und dies nicht nur in Skulpturen, sondern auch in Zeichnungen, Gemälden und Fresken – und sie in komplexen Haltungen zeigte, wurde über Jahrhunderte zum Maßstab jeglicher Darstellung des männlichen Aktes.

Wodurch der 1475 nahe Florenz geborene Michelangelo zum Vorbild für Künstler der nachfolgenden Generationen wurde, zeigt nun eine Ausstellung in der Albertina. Ein Kuratorenteam – Klaus Albrecht Schröder, Achim Gnann, Eva Michel, Martina Pippal und Constanze Malissa – hat 139 Werke, darunter vor allem Zeichnungen und Druckgrafiken sowie ein paar Skulpturen, in der Propter Homines Halle versammelt. Allesamt stellen sie unter Beweis, wie Michelangelos Arbeitsweise für lange Zeit zum Kanon wurde. Hier wurden gut gebaute Schönheiten und tragische Heroen zum Werkinhalt – und prägend für ein Menschenbild, das ein unerreichbares Ideal vermittelte.

Vorbilder und Nachahmer

Michelangelo interessierte sich besonders dafür, wie der Körper beschaffen ist und welche Wirkung ein Künstler erzielte, wenn er die Muskeln der Dargestellten in der Bewegung präzise studierte und wiedergab. So können Albertina-Besucher zu Beginn der Schau einen Eindruck davon bekommen, wie Michelangelo einst die Schlacht von Cascina in seiner Auftragsarbeit für den Palazzo Vecchio verewigen wollte. Zwar wurde dieses Werk nie fertiggestellt und sind auch Entwürfe verloren gegangen, doch Kopien lassen erkennen, wie er sich schon darin mit komplizierten Bewegungsmotiven auseinandersetzte. Die von ihm gezeigten Florentiner, die gerade aus dem Schlaf am Arno hochschrecken und zu ihren Waffen greifen, lassen innere Anspannung auch durch ihre Körperhaltung spüren – und stehen stellvertretend für den Kanon, den Michelangelo zur damaligen Zeit prägte. Kraft, Freiheitsdrang, Aktivität und die Fähigkeit zum eigenständigen Handeln werden in diesen Bildern automatisch mittransportiert. „Die Muskulatur ist für Michelangelo nie Selbstzweck. Es geht weniger um Anatomie als um einen dynamischen Ausdruck“, sagt Co-Kurator und Michelangelo-Experte Achim Gnann. Und Albertina-Direktor Klaus A. Schröder führt aus: „Die zum Zerreißen gespannten Körper zeugen auch von der inneren Zerrissenheit.“

Raffaello Santi: „Junger Mann, einen Alten auf dem Rücken tragend“. Auch er ahmte die präzisen Körperstudien Michelangelos nach.
Raffaello Santi: „Junger Mann, einen Alten auf dem Rücken tragend“. Auch er ahmte die präzisen Körperstudien Michelangelos nach.Albertina

Dafür hatte auch Michelangelo seine Vorbilder. So sah er etwa vor Ort, wie die Laokoon-Gruppe zu dieser Zeit bei Ausgrabungen vor den Toren Roms gefunden wurde. Auch in dieser sieht man den Priester und seine Söhne im Kampf mit Schlangen in kraftvoll-dynamischen Körperhaltungen – was prägend für Michelangelo werden sollte. In der Folge zeigt die Schau in der Albertina, wer große Nachahmer Michelangelos waren. Von Raffael bis Bandinelli, von Volterra bis Salviati, von Pompeo Batoni bis Anton Raphael Mengs – zahlreich waren jene, die nach seinem Vorbild das Studium der Anatomie, der Posen und der Gliederung der Körperteile pflegten und die sich dem Zeichnen nach der Natur verschrieben. Eine schöne Gegenüberstellung erlaubt ein Gipsabdruck der berühmten Michelangelo-Pietà, die der Renaissancemeister 1496 für den Petersdom in Rom ausgeführt hat. Christus liegt schwer im Schoß seiner Mutter, Muskeln, Adern und Hautfalten sind mit höchster Präzision ausgeführt. Daneben hängt in der Albertina Rosso Fiorentinos Darstellung, in der krallenartig gekrümmte Finger von den Todesqualen erzählen, während Giovanni Battista Franco mehr Ruhe einbringt. Allen gemein ist eine übernatürliche Kraft und Schönheit.

Gegenpol Rembrandt

Als „Anti-Michelangelo“ wird Rembrandt van Rijn in der Ausstellung der Albertina präsentiert – jener Künstler, der nicht die Schönheit des menschlichen Körpers in den Vordergrund rückte, sondern die Realität. Er stellte die Menschen in Vergänglichkeit und Schwäche dar. Die Körper sind bei ihm nicht athletisch, sondern ohne Idealmaße, faltig, eingefallen – er schreckte vor Unansehnlichkeit des gealterten menschlichen Fleisches und vor hängenden Brüsten nicht zurück. Rembrandt kehrte sich nicht nur vom Idealbild nach dem Modell der Antike ab, er kämpfte förmlich gegen den Kanon Michelangelos an. Bei Rembrandt ging es um schonungslosen Realismus, „er machte vor keiner Hässlichkeit Halt“, wie Klaus Albrecht Schröder betont.

Rembrandt wird als „Anti-Michelangelo“ präsentiert: „Nackte Frau auf einem Erdhügel sitzend“.
Rembrandt wird als „Anti-Michelangelo“ präsentiert: „Nackte Frau auf einem Erdhügel sitzend“.Albertina

Ein Sack voller Nüsse

Wo es Vorbilder und Nachahmer gibt, sind extreme, auch ins Groteske gezogene Ausprägungen nie weit. Mit „Sacco di nocce“, also Sack voller Nüsse, meint man in diesem Fall übertrieben dargestellte Muskelpartien. In den so betitelten Arbeiten wurden beispielsweise von Jacopo Tintoretto verzerrte, manieristische Ideale kreiert und die Proportionen des Körperideals ad absurdum geführt. Es wurde förmlich zur Unkenntlichkeit übersteigert, wie Michelangelo den Körper kraftvoll und dynamisch darstellte.

Als anderes Extrem des genauen Körperstudiums werden Werke präsentiert, in denen Menschen ohne Haut gezeigt werden, Muskeln und Sehnen sind freigelegt. Auch wenn die Bezeichnung „Écorché“ erst später aufkam, gab es auch in der Renaissance bereits Vertreter, die in solchen Arbeiten in gewisser, wenngleich übertriebener Weise Michelangelo zum künstlerischen Ahnherrn erklärten. Schließlich war er es, der mit einem so präzisen Studium der menschlichen Anatomie begonnen hatte, dass das Gerücht aufkam, er müsse einen Menschen ermordet haben, um dies so genau zeichnen zu können.

Während der Rundgang zeigt, wie etwa 200 Jahre nach Michelangelos Tod eine neuerliche Blüte seiner Arbeitsweise aufkam, wie das Schönheitsideal noch mehr in den Fokus rückte und wie Körperspannung und Dynamik nach seinem Modell umgesetzt wurden, präsentiert man auch, wie sich Peter Paul Rubens mit Zeichnungen Michelangelos auseinandersetzte, ja, solche sogar erwarb, die heute der Albertina gehören. Einmal mehr geht es um das besonders exakte Studium des Körpers, das sich Rubens von Michelangelo abschaute.

Egon Schiele: „Grimassierendes Aktselbstbildnis“. In Zeiten von Klimt und Schiele war das von Michelangelo kreierte Idealbild überholt.
Egon Schiele: „Grimassierendes Aktselbstbildnis“. In Zeiten von Klimt und Schiele war das von Michelangelo kreierte Idealbild überholt.Albertina

Ans Ende der Schau jedoch setzt man abermals Gegenpole. Klimt und Schiele sollen mit ihrem Werken dafür stehen, wie der Kanon im 20. Jahrhundert seinen Zenit überschritten hatte. Klimts „Femmes fragiles“, die die Frauen im Schwebezustand und als männlichen Traum zeigten, und Schieles Sexualisierung des Körpers, den er oft verkrampft zeigte, sollen Bespiele dafür sein, dass in Zeiten der Weltkriege Michelangelos Idealbild als überholt angesehen wurde. Als Massenvernichtung vorherrschte, wurde das Bild des kraftstrotzenden, heroischen Körpers endgültig zu Grabe getragen und verlor an Bedeutung, so der Tenor. „Als die Fragmentierung traurige Realität wurde, verlor sie an Relevanz“, unterstreicht Co-Kuratorin Eva Michel.

Wo bleibt die Frau?

Zusätzlich zu diesem umfassenden Rundblick quer durch die Jahrhunderte, in der Darstellungen männlicher Körper vorherrschen, wird noch eine Frage aufgeworfen: Wieso eigentlich ging es dabei nur um Männer? Es wird gezeigt, dass Michelangelo, der den männlichen Akt so genau studiert und neu definiert hatte, kaum nackte Frauen zeichnete. Eher verlieh er den männlichen Körpern weibliche Attribute. Jedenfalls aber waren es über viele Jahrhunderte Männer, die festlegten, wie ein Frauenakt auszusehen hatte. Dass sie als Nackte vorwiegend mit Laster, Sittenlosigkeit und Sünde verbunden und als Eva, Hexe oder Venus dargestellt wurden, ist wenig überraschend. Dieses Kapitel der Ausstellung bleibt jedoch Exkurs. Im Mittelpunkt steht, wie stark die Strahlkraft Michelangelos über Jahrhunderte für die Nachwelt war und wie er und seine Arbeit, so Schröder, zum „unübertroffenen Maßstab“ wurden.

Information

„Michelangelo und die Folgen“ bis 14. Jänner 2024 in der Albertina:

Täglich 10 bis 18 Uhr Mittwoch und Freitag 10 bis 21 Uhr

Tickets vor Ort an den Kassen oder online unter: www.albertina.at


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