Interview

„Es gibt 40 Prozent Umwegtransit, weil der Brenner der billige Jakob ist“

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Interview. Transithölle. 2,5 Millionen Lkw stauen jährlich durchs Inntal und über den Brenner. „Österreich nützt alle Möglichkeiten, was die Maut hergibt“, sagt Landeshauptmann Anton Mattle, „aber unsere Nachbarn hätten noch Potenzial.“

Die Presse: Herr Landeshauptmann, beim Dauerbrenner Transitverkehr scheint es bei der nachbarlichen Freundschaft zwischen Tirol und Italien unterschiedliche Interessen zu ­geben?

Anton Mattle: Wichtig ist, dass sich die Regionen, und das sind Bayern, das Bundesland Tirol, Südtirol und das Trentino sich einig sind, dass man mit dem Transit neue Wege gehen muss. Gemeinsam haben wir ja die Kufstein-Erklärung unterzeichnet und dabei ganz klar zum Ausdruck gebracht, dass man ein intelligentes Verkehrsmanagementsystem einsetzt. Aber wichtig ist für uns in Tirol auch, dass im Rahmen dieses intelligenten Verkehrsmanagementsystems unsere Notfallmaßnahmen nicht in Frage gestellt werden.

Diese Absichtserklärung für ein gemeinsames Verkehrsmanagementsystem wurde vor einem halben Jahr in Kufstein unterschrieben. Kann man damit auch Verkehr einbremsen oder nur leiten?

Ich bin definitiv davon überzeugt, dass man mit diesem Instrument Verkehr gestalten können wird. Es wird dadurch aber nicht weniger Verkehr sein. Weniger Verkehr wird es erst geben, wenn endlich die Verlagerung von der Straße auf die Schiene entsprechend stattfindet. Im Moment haben wir einfach nur Möglichkeiten, dass man den Verkehr besser gestalten kann, dass wir keine Staus haben, dass wir in dieses Management auch jede Baustelle, jeden Unfall einbeziehen können, damit die Fahrzeuge nicht stehen, sondern rollen.

Die rechte Spur auf der Inntalautobahn gehört den Lkw, auf der linken geht es langsam dahin. Daher etwas frech gesagt: Warum baut man nicht, auch aus Sicherheitsgründen, in beiden Richtungen eine dritte Spur dazu?

Zwei Dinge, warum das nicht geht. Zum einen hat die Belastung der Tiroler Bevölkerung durch den Transit, der Lärm, die Abgase, das hat ein Maß erreicht, dass man die Autobahn einfach nicht mehr erweitern darf. Es geht um Gesundheit – und es geht um die Natur und die bestehende Infrastruktur. Wenn wir jetzt von Klimaschutz, von Nachhaltigkeit und Verkehrswende reden, ist die Investition in Straßeninfrastruktur wahrscheinlich nicht die richtige Antwort, sondern es geht um die Investition in Eisenbahninfrastruktur und in den Brennerbasistunnel mit all seinen Möglichkeiten.

Über den Fortschritt des Brennerbasistunnels hört man nicht viel. Geht da was weiter? Ist man im Plan?

Ja, ich bin natürlich mit der Geschäftsführung des Brennerbasistunnel in regelmäßigem Austausch. Mit beiden, es gibt die österreichische Geschäftsführung und auch eine auf italienischer Seite. Wir reagieren auch immer ganz sensibel, wenn irgendwo Verzögerungen auftreten, weil wir umsetzen möchten, dass der Plan, bis zum Jahr 2032 den Tunnel fertigzustellen, hält. Den möchten wir ganz einfach auch umsetzen. Die Geologie der Berge ist zwar schwierig, es kann immer Unvorhersehbares passieren, aber laut aktueller Auskunft der Geschäftsführung ist das Ziel schaffbar. Das Problem liegt mehr bei den Zulaufstrecken.

Auf österreichischer Seite hat man 2009 zu bauen begonnen. 2032 soll der Brennerbasistunnel fertig sein. Mit rund 55 Kilometern von Innsbruck bis Franzensfeste ist das zwar ein langer Tunnel durch die Alpen, aber es ist auch eine lange Bauzeit. Vor allem, wenn man ihn mit dem rund 50 Kilometer langen Eurotunnel vergleicht, der unter dem Ärmelkanal in nur knapp acht Jahren fertig war.

Da treffen verschiedene Dinge aufeinander. Zum einen hat der Tunnel mit der Anbindung des Umfahrungstunnels Innsbruck, dem sogenannten Inntaltunnel eine Baulänge von 64 Kilometern. Dazu wird der Brennerbasistunnel natürlich nach dem neuesten Stand der Technik und nach neuesten Sicherheitserkenntnissen gebaut. Zu den zwei Röhren gibt es auch eine dritte, die als Servicetunnel genutzt wird. Und wir haben, wie schon erwähnt, geologisch nicht ganz einfache Verhältnisse, weil genau im Bereich des Brennerbasistunnels, auf Südtiroler Seite, die afrika­nische und die eurasische Platte aufeinan­dertreffen – und das ist natürlich auch tech­nisch eine Herausforderung. Und das dritte Problem ist, dass in Europa leider die Bahninfrastruktur nicht wirklich harmonisiert ist. Es gibt bei der Bahn keine gemeinsame Sprache. In jedem Nationalstaat spricht man die eigene Sprache. Wenn man sich im Moment bei uns die rollende Landstraße anschaut, dann wird oben am Brenner das Personal gewechselt. Es wird noch einmal eine Bremsprobe gemacht – wie wenn der Standard von Österreich hier nicht ausreichen würde. Außerdem muss man wissen, dass die Nord-Süd-Richtung in Italien anders gelebt wird wie in Österreich. Im Brennerbasistunnel muss daher ausgekreuzt werden, damit der mitteleuropäische Standard dergleichen Fahrtrichtung eingehalten werden kann. Das sind schon noch zusätzliche Herausforderungen, die auch dazu führen, dass es lange braucht.

Damit ziehen weiterhin jährlich 2,5 Millionen Lkw-Fahrten über den Brenner. Rechnen Sie in den nächsten zehn Jahren mit einem Anstieg, bis der Tunnel fertig ist?

 Wenn man das aktuelle Jahr anschaut, dann waren es im ersten Halbjahr interessanterweise weniger Lkw-Fahrten wie im vergangenen Halbjahr. Das hängt vermutlich damit zusammen, dass auch die Speditionsbranche keine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mehr findet. Ansonsten haben wir aber jedes Jahr davor eine massive Steigerung erlebt, von 2,1 auf 2,5 Millionen Lkw. Da stellen wir schon fest, dass es nach wie vor 30 bis 40 Prozent Umwegtransit gibt. Nur deshalb, weil der Brenner – und ich darf das wirklich auch provokant sagen – nach wie vor der billige Jakob ist. Weil, wenn man durch die Schweiz fährt, dann kostet jeder Lkw-Kilometer 85 Euro-Cent und die Strecke hat in etwa 380 Kilometer. Diese Maut von 85 Cent verlangt man in Österreich auch von Kufstein bis zum Brenner. Nur das sind lediglich 120 Kilometer. Südlich des Brenners und in Bayern wird nur eine Maut von 22 Cent pro Kilometer verlangt. Das macht bei jeder Fahrt einen stattlichen Betrag aus, den man dort spart. Wir müssen bis zur Inbetriebnahme des Brennerbasistunnels mit all diesen jetzt zur Verfügung stehenden Maßnahmen arbeiten, damit das Maß an Transit auch in Grenzen gehalten wird. Österreich nutzt all die Möglichkeiten, was die Maut hergibt, aus. Aber unsere Nachbarn hätten da durchaus noch Potenzial.

Potenzial hätte Tirol seinerseits bei Windrädern. Es gibt ja noch immer keines. Warum? Wie passt das in Ihre Umweltpolitik?

Es ist das erklärte Ziel der Tiroler Landesregierung und im Speziellen von mir, dass Tirol einen großen Beitrag in punkto Klimaschutz mit der Energieautonomie und der Energiewende leisten will und wird. Und wir haben in der Landesregierung zum einen die Windkraftstudie aktualisiert. Wir wissen, dass in etwa sieben Prozent des Endenergieverbrauchs rein theoretisch auch durch Windenergie erzeugt werden könnten. Das Land Tirol hat sogar für das erste Windrad, das aufgestellt wird, auch eine Prämie ausgeschrieben. Es gibt einige Gemeinden, die sich dafür interessieren. Man muss allerdings dann schon auch wissen, dass heute Windkraft mit Windrädern erzeugt wird, die auf einer Nabenhöhe von 135 Meter sind. Und wenn man sich die Talschaften Tirols anschaut, ist da nicht überall eine Möglichkeit. Teile dieser windgünstigen Lagen befinden sich in Landschaftsschutzgebieten.

Also wird ein erstes Tiroler Windrad noch eine Zeit dauern?

Wir sind definitiv technologieoffen in Tirol. Denn wir müssen alles einsetzen, damit wir diese Energiewende schaffen und die Abhängigkeiten vom Tisch bringen. Da gehört auch Wind dazu – aber bitte das Potenzial nicht überschätzen.

Wie kann Tirol die Energiewende schaffen?

Wir setzen sehr stark auf den Ausbau von Fotovoltaik, aber auch auf ergänzenden Ausbau der Wasserkraft. Diese beiden Technologien können sich sehr gut ergänzen, weil gerade die Volatilität von Wind und Sonne auch Speichermöglichkeiten braucht. Tirol hat aufgrund seiner Topografie die Möglichkeit, Speicherseen zu bauen, die, wie wir jetzt gesehen haben, gerade in Hochwassersituationen auch in puncto Sicherheit einen guten Dienst leisten können.

Man könnte auch einen Weg gehen, weniger Energie zu verbrauchen. Wie schaut es mit Einsparpotenzialen aus?

Am Weg in die Energieautonomie gilt es auch, alles an Sparpotenzial abzuholen. Das größte Sparpotenzial liegt definitiv im Sanieren von Gebäuden, im Sanieren von Wohnungen. Wir in Tirol haben 80.000 Wohnungen, die in den Jahren 1950 bis 1980 gebaut worden sind. Und wenn Sie Bautechniker fragen, dann werden die bestätigen, dass die Häuser damals nicht isoliert worden sind.

Danke für das Stichwort Wohnen: 70 Prozent der Tiroler und Tirolerinnen wohnen in einem Eigenheim – und haben Glück, nicht wie anderenorts der aktuellen Mietpreisrally ausgeliefert zu sein.

Das Thema Eigentum hat im Westen Österreichs immer eine ganz, ganz große Rolle gespielt und das ist mir weiterhin wichtig, dass dies so bleibt. Dafür gibt es einige Gründe. Zum einen heißt es, wenn ich im Eigentum wohnen darf, dass die Gefahr von Altersarmut geringer ist, weil ich nicht mehr die klassische Mietbelastung habe. Das Zweite, was mir immer wichtig ist: Menschen, die im Eigentum wohnen, sind auch sehr sesshaft. Das trägt auch dazu bei, dass ordentlich Leben in unseren Dörfern drinnen ist. Und das Dritte – und das wird viel zu wenig diskutiert – wenn es uns gelingt, dass Menschen wieder im Eigentum wohnen, dann wird auch der Mietmarkt entlastet, weil ganz einfach weniger Bewerber und Bewerberinnen für zur Verfügung stehende Mietwohnungen anstehen. Dabei ist meine sehr klare Forderung, dass es in puncto der KIM-Verordnung (schärfere Vergabekriterien von Krediten, Anm.) zurückgehen muss auf die Verordnung, wie sie vor zwei Jahren noch gegolten hat. Dort war es einfacher, dass man notwendige Kredite und Darlehen bekommen hat, um sich auch Eigentum zu schaffen.

Tirol ist ein teures Pflaster. Wohnraum ist knapp. Wer Pech hat und sein Eigenheim oder seine Wohnung in den Tourismushotspots hat, dessen Grundstück oder Wohnung ist am Papier viel Geld wert. Da sind die Vermögens- und Erbschaftssteuern, wie sie gerade heftig diskutiert werden, Gift. Wie stehen Sie dazu?

In dieser Diskussion liegt unwahrscheinlich viel Gefahr. Zum einen muss man schon wissen, dass alle Mittel, von denen man hier spricht, schon einmal versteuert worden sind. Wenn dies dann dazu beiträgt, dass noch stärker Abstand von Eigentum genommen wird, mit all den dramatischen Auswirkungen dazu, dann warne ich vor solchen Schritten. Denn es geht dann sehr schnell, dass jemand, der eine Eigentumswohnung hat, jemand, der das Haus hat, dann noch mit zusätzlichen Steuerbelastungen leben muss. Deshalb ist es in dieser Form, wie das im Moment diskutiert wird, ein ganz klares Nein.

Ein klares Nein generell zu Vermögenssteuern? Oder nein zu einem nochmaligen Versteuern von Eigenheimen?

Ich glaube, wenn man über solche Steuern spricht, darf das klassische Eigenheim, das eigene Haus, die eigene Wohnung, ganz einfach nicht betroffen sein. Weil da bauen wir ja eine Hürde in dieses Recht auf Eigentum ein, das dann hemmend ist und das dann dazu führt, dass die Menschen von dem, was ihnen bisher lieb und wichtig ist, dass sie das dann nicht mehr machen.

Österreich hat neun Länder, Tirol hat neun Bezirke und 277 Gemeinden. In der kleinsten wohnen keine 50 Menschen. Da viele kleine Gemeinden grenzübergreifend zusammenarbeiten, wäre es nicht sinnvoll, vor allem in Talschaften, wenn man diese motiviert, zusammenzugehen?

Da würde ich ganz oben gerne anfangen. Die föderale Struktur braucht es deshalb, weil wenn ich mir Österreich und die Bundesländer anschaue und weiß, dass in Niederösterreich 65 Prozent der Landesfläche als Siedlungs- und Wirtschaftsraum zur Verfügung stehen und in Tirol gerade mal elf Prozent. Dann braucht es eben in Tirol eine andere Bau- und Raumordnung wie in Niederösterreich, weil wir uns in Tirol nicht so ausbreiten können. Die Gemeinden arbeiten massiv zusammen. Allerdings bin ich ein großer Fan davon, dass Gemeinden auch politisch Verantwortliche haben. Diese politischen Verant­wortungsträger sind absolut notwendig, weil sie durchs Dorf gehen und ganz stark auf eine Gemeinde schauen. Dieses identitätsstiftende Gesicht in einer Gemeinde erachte ich als besonders wertvoll.

Wäre dieser beschriebene Bürgermeister oder die Bürgermeisterin nicht auch im Nachbardorf ein bekanntes und akzeptiertes Gesicht?

Es ist in allen Tälern so, dass massiv zusammengearbeitet wird. Aber wir haben in den tourismusstarken Tälern natürlich auch die Situation, dass zumindest acht Monate im Jahr die Dörfer wesentlich größer werden. In meiner Heimatgemeinde Galtür sind wir 780 Bürgerinnen und Bürger. Und wenn Saison ist, dann sind wir 5000 Leute. Neben den Gästen sind auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die als Saisonniers in unser Dorf kommen, mitzubewerten. Unsere Gemeinde muss eben auch Infrastruktur stellen für mindestens 5000 Personen. Und das ist eine große Herausforderung.

Sie sprechen aus jahrzehntelanger Erfahrung. Sie waren 30 Jahre Bürgermeister. Was war denn Ihre Motivation, für das Amt zu kandidieren?

Das wird alles nicht der Entlohnung wegen gemacht. Es wird deshalb gemacht, weil sich Bürgerinnen und Bürger in unserem Land engagieren wollen – für ihren Lieblingsplatz. Das war auch meine Motivation, dass ich mich als sehr junger Kandidat, 22-jährig, das erste Mal einer Gemeinderatswahl gestellt habe; und dass ich dann mit gerade 23 Jahren und drei Tagen Vizebürgermeister geworden bin. Der Grund war nie die Entlohnung. Der Grund ist, und ich spüre das bei den Damen und Herren schon, dass sie sich einfach für ihre Gemeinde entsprechend engagieren wollen.

Das bedeutet, in Tirol finden sich nach wie vor ausreichend Menschen, die mit Freude heute ein Bürgermeisteramt übernehmen wollen, obwohl das Amt landläufig als ein unbedankter Job gilt?

Bei der letzten Gemeinderatswahl, die ist jetzt anderthalb Jahre her, war dies kein Thema. Es hat ausreichend Kandidatinnen und Kandidaten gegeben. Als Gemeindereferent bin ich auch sehr stark mit allen in Verbindung und ich spüre dann schon, dass es den Damen und Herren ein großes Anliegen ist – egal, wie klein oder wie groß eine Gemeinde ist – ihren wichtigsten Ort, ihren Platz des Lebens, entsprechend zu gestalten und weiterzuentwickeln.

»„Der Bau des Brenner Basistunnels dauert unter anderem so lang, weil in Europa leider die Bahninfrastruktur nicht harmonisiert ist.“«

Anton Mattle

Landeshauptmann

»Wenn man über Vermögenssteuern spricht, darf das klassische Eigenheim, das eigene Haus, die eigene Wohnung nicht betroffen sein. Deshalb ein klares Nein, wie das im Moment diskutiert wird.“«

Anton Mattle

Landeshauptmann

Anton Mattle

Seit einem Jahr ist Anton Mattle (63) Landeshauptmann von Tirol. Der Landesregierung gehört er seit Mai 2022 an, als er das Amt des Wirtschaftslandesrates bekleidete. Davor war Mattle 30 Jahre Bürgermeister in seiner Heimatgemeinde Galtür im Paznaun.


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