Aus der Haut gestiegen

Klaus Modicks Roman "Der kretische Gast" pendelt zwischen Hamburger Winter und kretischem Sommer, dem Zweiten Weltkrieg und den Siebzigerjahren.

Er sieht aus wie die anderen: helles Hemd, schwarze Pluderhosen, braun gebrannte Haut, die Hände rau. Wer Yannis sprechen hört, staunt aber. Dieser Akzent? Yannis ist kein Grieche, er heißt Johann Martens und kommt aus Lübeck. Ein Deutscher mitten unter Fremden, ungewöhnlich genug. Von 1941 bis 1945 ist Kreta von der Wehrmacht okkupiert, der Partisanenkrieg tobt. Johann hat sich auf die Seite des Widerstands geschlagen. Darauf steht der Tod.

"Der kretische Gast" heißt Klaus Modicks neues Buch. Es pendelt zwischen Hamburger Winter und kretischem Sommer, zwischen Zweitem Weltkrieg und den Siebzigerjahren, und es riecht nach Kampfer und Menthol, nach Thymian, nach gebratenem Lamm und salziger Luft. Keine Strandkorblektüre, sondern ein fesselnder Roman darüber, wie Menschen mit Verantwortung umgehen.

Johann Martens ist Archäologe und stellt seine Forschungen in den Dienst völkischer "Rassenkunde", um dem Krieg zu entkommen. Allein, im Oktober 1943 wird's eng. Martens müsse zur Wehrmacht, hört er, außer er stehe für eine spezielle Mission in Kreta zur Verfügung. Dort soll er die prägermanische Einflusszone hellenischen Ariertums erkunden, "um die einschlägi-gen Werke und Gegenstände ausfindig zu machen, ihren Wert zu bestimmen und sie für anschließende Rückführmaßnah-men ins Herz- und Kernland zu kennzeichnen". Kriegsbeute zu orten und zu katalogisieren: kein angenehmer Auftrag. Doch Johann Martens fügt sich den Anweisungen von oben.

Kreta ist von Deutschen und Italienern, aber auch von Briten besetzt. Partisanen verschiedenster politischer Herkunft haben sich vereinigt, um die Insel zu befreien. Andreas ist einer von jenen, die im Untergrund agieren. Er dient Johann als Fahrer. Zwischen den beiden entsteht eine vorsichtige Freundschaft. Johann will sich nicht in die politischen Ereignisse involvieren lassen. Schon in Deutschland hatte er sich hinter seinen Studien verschanzt. Ein Leben im Halbschlaf. Erst in Kreta wacht Johann auf. Er sieht, wie brutal der Widerstand niedergeschlagen wird, wie Zivilisten erschossen, Häuser niedergebrannt werden. Aus Johann wird Yannis, Tag für Tag ein Stückchen mehr.

Klaus Modicks Roman ist kein Lehrstück, auch wenn er seine Handlung in einer straffen Dramaturgie nach vorne treibt, mit regelmäßigen Zeit-, Personen- und Ortswechseln. Hamburg ist der Schauplatz der zweiten Erzählebene. Dort lebt Lukas Hollbach, angehender Lehrer. Ist's bloßer Zufall, dass er auf einem Flohmarkt zwei Fotografien mit merkwürdigen Gestalten sieht, in schwarzen Pluderhosen, weißen Hemden und seltsamen Westen? Bald dämmert es ihm, dass hier Menschen abgebildet sind, die er im Fotoalbum seines Vaters schon einmal gesehen hat. Doch dieser leugnet, die Leute zu kennen. Und außerdem hätte er ja alle Fotos aus seiner Zeit in der Wehrmacht verbrannt, was also wolle der Sohn da noch beweisen?

Lukas beginnt einen Kampf gegen das Schweigen seines Vaters und dessen Generation, erforscht die blinden Flecken in der Familiengeschichte und findet sich in Kreta wieder. Dort stößt er auf Yannis' Schicksal. Dieser hat 1943 Fotografien von Erschießungen durch die Deutschen gemacht, die er nicht herausrücken will. Er wird von seinen Landsleuten verhaftet und durch seine griechischen Freunde befreit.

Eine packende Geschichte, und doch weit entfernt vom bloßen Abenteuerroman vor historischer Kulisse. Klaus Modick steht zu seinem Anspruch, dass Literatur auch unterhalten müsse. Und doch biedert sich sein Buch nicht an. Modick ist ein gewandter Romancier, der vieles in der Schwebe hält und dann doch wieder mitten hineinspringt ins Geschehen.

Yannis schließt sich dem Widerstand an, er verliebt sich in ein kretisches Mädchen, heiratet. In dieser Zeit führt er ein gefährliches Leben, immer in Angst vor Verfolgung und Verrat. Als Dolmetscher zieht man ihn hinein in die Verhandlungen zwischen Partisanen, Deutschen und Briten. Die Gespräche zielen insgeheim auf den Plan, die Kräfte des Widerstands zu spalten und neue Allianzen entstehen zu lassen. Der Weg in den Bürgerkrieg scheint frei. Schlechte Aussichten für Griechenland.

Und für Yannis? Er weiß, wohin er gehört. Und auch für Lukas klärt sich langsam der Blick: Dürre Daten, die er sich aus den Geschichtsbüchern zusammengesucht hat, füllen sich mit Leben. Zugleich taucht eine junge Frau auf, deren Biografie merkwürdig mit der Geschichte seines Vaters verknüpft ist. In einem furiosen Finale führt Klaus Modick die beiden Handlungsfäden zusammen - wie das Buch auch sonst immer wieder überrascht: durch den Detailreichtum seiner Recherchen und das Fieber zwischen den Zeilen. Fragen und Rätsel bleiben stehen, in den Bildern und Metaphern tun sich weite Räume auf.

Den pirasi polemos. Macht ja nichts, ist ja Krieg, heißt es auf Kreta immer wieder. Alles scheint möglich, wenn die Welt aus dem Lot ist und die frühere Ordnung zerschellt. Modicks Buch ist ein Versuch, die Scher- ben aufzulesen und zusammenzufügen. Die Bruchstellen bleiben, wie geheime Landkarten mit verschlüsselten Botschaften. Jeder sucht seinen eigenen Weg. [*]

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