Nur nicht zahnlos muffeln

In der Metropole ist in diesen hochsommerlichen Tagen ein Schichtwechsel im Gang.

Über der Wiener City lastet jetzt ein Fluch der Gruppen. Ich bin grantig, gewiss. Aber wenn ich mich vom Gehsteig auf die Fahrbahn mühen muss, weil eben von einer Autobus-Flotte ausgespiene Touristen mir den Weg verstellen, verwünsche ich die EU-Ostöffnung. Obgleich jetzt auch die Ein-Stern-Herbergen ihre Qualitätsgäste haben.

Die Seitenblicke-Gesellschaft hat sich indessen nach Salzburg verlagert, wo der neue Intendant, wenn man seine Worte interpretieren darf, die Festspielgäste am liebsten in Ruderleiberl und Minirock sehen würde. Ich habe, was auf der Perner-Insel und im „Freischütz“ (Weber dreht sich im Grab um) zugemutet wird, auszugsweise per TV miterlebt. Wem das nicht gefällt, läuft laut Herrn Flimm Gefahr, „zahnlos vor sich hin zu muffeln“. Ich nehme es auf mich.
So ist es – ist es so? Man denkt an Pirandello. Man denkt auch an Karl Marx: Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Oder umgekehrt? Inmitten der Adabeis nimmt sich Marianne Sayn-Wittgenstein-Sayn wie ein erratischer Block aus. Als sie im Fernsehen mit „Gräfin“ angesprochen wurde, verbesserte sie erbost: „Fürstin!“ Eine Selbstdarstellerin? Etliche von ihnen fehlen derzeit offenbar in der Festspielstadt: Klaus Albrecht Schröder etwa, Harald Serafin oder auch eine sonst immer allgegenwärtige ehemalige blonde Operetten-Diva. Dafür war Andi Goldberger vom Lidl nach Salzburg gekommen. Er wusste nur nicht, was er anziehen sollte.

Die Selbstdarstellung ist freilich notwendig, wenn das Polittheater zu Gunsten des künstlerischen verlassen wird. Die Akteure signalisieren dadurch „kulturelles Interesse und klassische Bildung“, las ich in einer Zeitung. Immerhin nannte Alfred Gusenbauer (und ich nehme es ihm vorbehaltlos ab) Mahlers „Erste“ als eine seiner Lieblingssymphonien. Britische Abgeordnete dagegen seien nur an Restaurants, Mode und Rockgruppen interessiert, schrieb das Blatt. Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Gusenbauer weiß, was er seiner Funktion meint schuldig zu sein. Schließlich hat er schon in der Sandkiste gewusst, was er werden will.


Der Autor war Chefredakteur und Herausgeber der „Presse“.


chorherr@diepresse.com("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.08.2007)

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