Die „Katastrophe“ im Schatten Israels

(c) AP (Hatem Moussa)
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Zum 60. Geburtstag Israels erinnern sich auch die Palästinenser: an Flucht und Vertreibung des Jahres 1948. Die PLO hat Israel längst anerkannt, doch noch immer lehnen manche eine Zwei-Staaten-Lösung ab.

Jerusalem. Abd-el Fattah Ghanem war acht Jahre alt, als jüdische Soldaten das benachbarte Dorf Beith Guvrin angriffen, das heute in Israel liegt. Die knapp 700 Einwohner aus Ghanems Heimatort Dir Nachas packten eilig ihre Sachen zusammen und zogen zu Fuß Richtung Osten nach Hebron. Die meisten landeten später in Flüchtlingslagern, wo sie bis heute leben.

Ghanem hatte Glück. Seine Großmutter wohnte in Assamua, einem Dorf bei Hebron. Sie nahm die Familie auf. „Wir waren so arm, ich hatte nicht einmal Schuhe“, erinnert sich Ghanem an den Beginn der „Nakba“, der palästinensischen „Katastrophe“ vor genau 60 Jahren. Viele der Flüchtlinge haben die Hoffnung auf eine Rückkehr in ihre alte Heimat nicht aufgegeben. Auch Ghanem hält die Idee der Teilung des umstrittenen Landes in zwei Staaten und damit die Aufgabe des 1948 verlorenen Gebietes für „dumm“. Der Friedensprozess dauere nun schon so lange: „Man sieht doch, dass nichts dabei herauskommt.“

Enttäuscht von arabischer Welt

Die Palästinensische Befreiungsorganisation PLO brauchte mehr als 20 Jahre, um sich offiziell vom Traum der Rückgewinnung des „palästinensischen Heimatlandes“ zu verabschieden. „Wir waren überzeugt, dass es keinen anderen Weg als großangelegte militärische Aktionen gibt, um Palästina zu befreien“, resümiert Ibrahim Barghouti, der im PLO-Exekutivrat saß, als Jassir Arafat 1969 zum Vorsitzenden gewählt wurde.

Barghouti hatte schon 1948 militärischen Widerstand gegen die Zionisten zu leisten versucht – bis die arabischen Truppen kamen und den Palästinensern den Kampf abnahmen. „Sie versprachen, Palästina auf einem Silbertablett zurückzubringen“, spottet er heute. Auch 1967 kämpften die Armeen der arabischen Staaten, nicht die Palästinenser. Der zweite verlorene Krieg, in dem die Israelis das Westjordanland und den Gazastreifen besetzten, „öffnete uns die Augen“.

Kein Kampf ohne gute Schuhe

„Ab sofort wollten wir selbst kämpfen.“ Im Exil stellte der neue PLO-Chef Jassir Arafat Truppen auf. „Er schaute immer zuerst auf die Schuhe“, erinnert sich Barghouti. „Ohne gute Schuhe konnte man nicht kämpfen.“ Arafat, der trotz zahlloser politischer Fehler bis zum Tod von seinem Volk so geliebt wurde, wie es sich ein Präsident nur wünschen kann, habe immer ein offenes Ohr für seine Mitkämpfer gehabt.

Erst im Verlauf der Konferenz von Algier im November 1988 anerkannte die PLO Israel und erklärte gleichzeitig die Unabhängigkeit Palästinas. „Zwei Staaten, das kann nur eine Zwischenstation sein“, schränkt Barghouti 20 Jahre danach ein. „Palästina ist ein Land, ein Körper. Es ist falsch einen Körper zu zerschneiden.“

Ein Jahr vor der Erklärung von Algier stießen im Flüchtlingslager Jabalia nördlich der Stadt Gaza ein israelischer Lkw und ein vollbesetztes Taxi zusammen, alle Insassen wurden getötet.

Studenten und Schüler zogen spontan auf die Straße und begannen, einen israelischen Jeep mit Steinen zu bewerfen. Die Soldaten schossen zurück und töteten den 17-jährigen Hatem Abu Sisi, das erste Opfer des palästinensischen Volksaufstandes, der sogenannten „Intifada“, was mit „sich erheben“ oder „abschütteln“ übersetzt werden kann.

Sami Abu Salim stand damals in unmittelbarer Nähe seines Freundes. „Wir wollten Hatem am nächsten Tag beerdigen, aber die Soldaten griffen an“, erinnert er sich. „So viel Schießen und so viele Verwundete hatte es vorher nicht gegeben.“

Die Demonstrationen wurden immer größer und breiteten sich bis ins Westjordanland aus. „Wir haben nie daran geglaubt, die Soldaten vertreiben zu können“, resümiert Sami: „Aber sie verhielten sich immer schlimmer und demütigten selbst alte Menschen auf der Straße. Die Leute wurden zornig.“

Auch darüber, dass sie von der Welt und vor allem auch von den arabischen Nachbarstaaten allein gelassen wurden. „Wir haben nichts erreicht. 60 Jahre Nakba und nichts ist passiert“, resümiert Sami. „Keine Unabhängigkeit. Stattdessen warten wir an den Grenzübergängen auf die Lebensmittelspenden der UNO.“

Die internationale Isolation der PLO verstärkte sich, als Arafat 1991 offen seine Solidarität mit Iraks Diktator Saddam Hussein demonstrierte. Palästinenser, die in den Golfstaaten arbeiteten, mussten ihre Koffer packen.

Falsches Pferd: Saddam Hussein

„Meine Eltern waren im Militärkrankenhaus in Riad beschäftigt“, erinnert sich Rania Ghrouf, die 1983 als 12-Jährige nach Saudiarabien ging. Als die USA Anfang 1991 gegen den Irak in den Krieg zogen, wurden beide entlassen.

Als ihr Vater zurück in Jericho nach mehr als einem Jahr endlich eine Anstellung im Gesundheitszentrum der Kleinstadt fand, verdiente er nur rund 130 Euro im Monat. Zuhause in Jericho wurde sie von israelischen Besatzungssoldaten begrüßt. Jahre später, nach dem israelischen Abzug aus der Stadt, kamen die Soldaten erneut und errichteten Straßenblockaden.

Dabei hätte alles ganz anderes laufen können. Mit Ölzweigen und Kuchen für die Soldaten feierten die Palästinenser 1993 das „Gaza-Jericho-Abkommen“, mit dem im Rahmen der Oslo-Verträge der Friedensprozess erstmals konkrete Formen annahm. Arafat kehrte aus dem Exil zurück, die Israelis zogen ihre Truppen aus den neuen autonomen Gebieten teilweise ab.



„Zwei Staaten, das kann nur eine Zwischenlösung sein. Es ist ein Land, ein Körper.“

Ibrahim Barghouti, früheres

Mitglied des PLO-Exekutivrates.

„Oslo zuzustimmen hätte bedeutet, auf unser Land zu verzichten“, rechtfertigt Fausi Barhum von der Hamas im Gazastreifen die Terrorattentate, die den Prozess bremsten. Arafat hätte „nichts gegen den Bau der jüdischen Siedlungen unternommen“, meint Barhum.

Seit Kämpfen zwischen Hamas und Fatah im Gazastreifen, die die Islamisten für sich entschieden, steht die Bevölkerung unter einem Embargo. Außerdem drohen jederzeit neue israelische Militärschläge, solange die Raketenangriffe aus dem Gazastreifen andauern.

Die Angst der Moderaten

Genau davor fürchtet sich die moderate Führung im Westjordanland. „Jedes militärische Vorgehen in Gaza macht die Dinge nur komplizierter“, glaubt Saeb Erekat, Delegierter bei allen bisherigen Friedensverhandlungen. Für ihn besteht die einzige Lösung für den inner-palästinensischen Konflikt in einem Friedensvertrag mit Israel samt Staatsgründung. „Damit würde die Hamas von der Bildfläche verschwinden“, sagt Erekat und warnt: „Wenn uns das nicht gelingt, dann werden wir, die moderaten Palästinenser, verschwinden.“ Gastkommentare Seite 40, 41

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.05.2008)


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