Die Illusionen der Russland-Versteher

Die russischen Sicherheitsbedürfnisse sind schon deshalb nicht akzeptabel, weil zur Realisierung abermals Panzer bemüht werden. Hat Russland das Recht auf ein Imperium? Nein.

Beim morgigen EU-Ukraine-Gipfel in Evian gibt es nur eine gravierende Frage: wie wird man Russland davon abhalten können, mit der Ukraine wie mit Georgien zu verfahren – d. h. Destabilisierung des Landes, Abtrennung von Teilgebieten (Krim), Militäreinsatz „zum Schutz russischer Bürger“? Wird die geplante Verdichtung der Beziehungen zur EU so rasch und glaubwürdig gelingen, dass sie Moskau als eine Art rote Linie wahrnimmt?

Moskaus Gewalteinsatz in Georgien hat die Europäische Union stärker als erwartet geeinigt. Schon der heutige Moskau-Besuch Sarkozys wird zeigen, ob sich der Kreml vom Protest der 27 Staaten beeindrucken lässt. Skepsis bleibt weiter geboten. Putin, der ja verschlüsselte Bildbotschaften liebt, ließ sich jüngst etwas Besonderes einfallen. Wenige Stunden vor dem EU-Sondergipfel zur Kaukasuskrise zeigte das russische Fernsehen Putin, wie er einen „wildgewordenen“ Amur-Tiger mit dem Gewehr betäubte. Danke, Wladimir Wladimirowitsch, danke, verstanden.

Die Annahme, Russland und die EU seien durch eine auf gemeinsamen Werten und Interessen gegründete „Strategische Partnerschaft“ treulich verbunden, hat sich als Trugbild entpuppt. Moskau ist die Wiederherstellung seiner Machtsphäre wichtiger. Der europäische Glaube an den „Hoffnungsträger“ Medwedjew wurde zur kompletten Enttäuschung. „So der Westen gute Beziehungen mit Russland erhalten möchte, wird er unsere Entscheidung verstehen müssen“, sagte der Präsident nach der Anerkennung der abchasischen und südossetischen Unabhängigkeit. Anders gesagt: „Wenn Ihr unsere Einflusszonen nicht akzeptiert, werden sich unsere Beziehungen verschlechtern“.

Es sieht so aus, als seien die Bemühungen der EU gescheitert, Russland dauerhaft in die Werte- und Verhaltensordnung des Westens zu integrieren. Noch scheut Europa davor zurück, einen endgültigen Fehlschlag zu konstatieren. Denn auch der Kreml wisse ja um seine Wirtschaftsinteressen und die Notwendigkeit westlicher Investitionen. 20 Milliarden Dollar Auslandskapital seien inzwischen aus Russland geflüchtet; die Oligarchen wollten gewiss nicht weitere Milliarden durch Kursstürze verlieren. In der Tat: solche Faktoren gab es zu Sowjetzeiten noch nicht.

Russland ist stark in seiner Meisterschaft, Divergenzen in der EU auszunützen, stark in seinem psychologischen Einschüchterungsspiel, stark als Rohstoff- und Energielieferant – doch schwach in seiner gesamtwirtschaftlichen Lage, schwach in Infrastruktur und Bevölkerungsentwicklung, schwach mit dem Ist-Zustand von Armee und Flotte. Mit der Anerkennung von Abchasien und Südossetien hat der Kreml einen strategischen Fehler begangen, der ihm noch große Probleme bereiten wird.

Die moskowitische Einkreisungsthese

Natürlich sollte der Westen die Gesprächskontakte mit Russland nicht abbrechen. „Dialog“ bleibt die einzig praktikable Verständigungsform. Auch das Gerede von „Sanktionen“ war (vorderhand) sinnlos. Dennoch ist die Ernüchterung inzwischen so groß, dass sich der Westen rasch von den Illusionen der Russland-Versteher verabschieden sollte. Zu deren ständigen Topoi gehört die moskowitische Einkreisungsthese. Der Westen habe die russische Schwäche in den 90er-Jahren ausgenutzt, die Grenzen der Nato ostwärts verlagert, die USA hätten Stützpunkte in Zentralasien aufgebaut, gemeinsam mit Israel Georgien aufgerüstet und würden nun mit dem geplanten Raketenschild in Polen und Tschechien Russland direkt bedrohen.

Einschüchterungspropaganda ohne sachliche Grundlage? Kann sich Moskau nicht tatsächlich von vielen Seiten bedrängt fühlen? Vor dem Parlament in Rom sagte Außenminister Franco Frattini, in Russland habe seit langem Frustration geschwelt, die jetzt explodiert sei – „der Westen hat den Fehler gemacht, Russland zu erniedrigen“. So etwas hört man im Kreml gern und nutzt es im psychologischen Schachspiel.

Ja, Russland hat seine historischen Erfahrungen mit Einfällen von außen (Tataren, Napoleon, Hitler). Ja, es gibt ein legitimes russisches Sicherheitsbedürfnis, für das ein allzu überheblicher Westen in der Jelzin-Zeit wenig Verständnis entwickelte. Dennoch sind die wiederbelebten russischen Sicherheitsbedürfnisse schon deshalb nicht akzeptabel, weil sie zur Realisierung abermals Panzer bemühen. Hat Russland das Recht auf ein Imperium? Nein.

Russland war öfter Eroberer als Opfer

In der „Zeit“ schreibt Josef Joffe, Russland sei in der Geschichte viel öfter Eroberer denn Opfer gewesen, und er zitiert Friedrich Engels: „Bei Katharinas Tod besaß Russland schon mehr, als selbst der übertriebenste nationale Chauvinismus verlangen konnte“. Heute meinen viele, man müsse sich doch in das Gefühl der schrecklichen Demütigung hineinversetzen, das die ehemalige Weltmacht beim Niedergang in den 90er-Jahren ergriffen habe. „Der Zerfall der Sowjetunion war die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“, hat Putin gesagt. Viele Russland-Versteher finden das nicht ganz daneben.

Und doch ist es falsch. Die Freiheiten für die Menschen, die mit dem Ende einer so schrecklichen Diktatur wie der Sowjetunion möglich wurden, sollten uns mehr wert sein als Absicherung der Macht mittels diskreditierter Methoden. Es ist genau dieser Rückfall in „altes Denken“, der im 21. Jahrhundert erschreckt.

Geliebtes postsowjetisches Trauma

Warum denn wollten viele ehemalige Sowjetrepubliken in die Nato? Warum ist dies das Ziel der Ukraine, Georgiens und womöglich auch Armeniens? Darüber scheint man in Moskau nicht nachdenken zu wollen. Lieber leidet man am postsowjetischen Trauma. Die Sowjetunion wurde ja nicht vom Sieger des Kalten Krieges zerstückelt. Es gab kein Versailles, das sich im Falle Deutschlands als Nährlösung eines unheilvollen Revanchismus erwies. 14 von 15 Sowjetrepubliken stoben 1991 freiwillig und blitzartig davon. Warum wohl?

Heute meint das Duumvirat Putin/Medwedjew, ein Riesenreich wie die Russländische Föderation könne man nur autoritär-„vertikal“ lenken. Ist das die Maxime, dann darf es natürlich nur eine Schein-Opposition geben, dann wird Pressefreiheit nur auf begrenzten Spielwiesen erlaubt, dann muss die Justiz als Instrument der Herrschenden dienen. Eine solche „souveräne Demokratie“ hat mit ihrem eigentlichen Begriffsinhalt nichts mehr zu tun. Das heutige Moskau glaubt in gefügigen Klientelstaaten an seinen Grenzen mehr Sicherheit zu finden als in demokratischen Nachbarn.

Im Zusammenhang mit dem Georgienkrieg sprach Putin einmal ominös vom „logischen Ende einer Entwicklung“. Inzwischen hat der Kreml das „logische Ende“ mehrfach verdeutlicht. Es ist der Sturz Saakaschwilis, seine Ersetzung durch ein Vasallenregime und die Etablierung von „Einflusszonen“ wie einst. Was in Georgien begonnen wurde, könnte sich – so befürchtet es selbst der französische Außenminister – auch in der Krim, in Transnistrien oder im Baltikum fortsetzen (wo z. B. die estnisch-russische Grenze nicht anerkannt ist). Alarmierend war vor allem Moskaus Ankündigung, russische Bürger auch jenseits der Grenzen schützen zu wollen. Europa kann eine solche Entwicklung nicht akzeptieren.

Russland vor die Wahl stellen

Russland muss zurück zur Einsicht gebracht werden, dass Partnerschaft mit der EU nur auf der Basis von Vertrauen und Achtung des Völkerrechts möglich ist und dass Russland ohne Öffnung, Rechtsstaatlichkeit und Integration in die Weltwirtschaft keine dauerhafte Zukunft bevorsteht. Vor diese Wahl muss Russland gestellt werden. Das erfordert von der EU langen Atem, Prinzipientreue und konsequentes Verhalten. Die Zeit sorgloser Beschönigungen liegt hinter uns.

Dr. Paul Schulmeister war von 1972 bis 2004 beim ORF, insgesamt 15 Jahre Deutschland-Korrespondent in Bonn und Berlin. Seither freier Journalist in Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.09.2008)

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