Eine Führung hinter die Fassaden von Linz

Jüdisches Viertel, Orte der Revolution und Kunst der Zukunft: Mit dem „Austria Guide“ lässt sich Linz neu entdecken.

Was verbirgt sich hinter der Fassade? Sie wirkt beschädigt, breite und schmale Streifen ohne Putz sind an der Mauer des Brückenkopfgebäudes am Linzer Hauptplatz zu sehen, darunter kommen rote Ziegel und grauer Mörtel zum Vorschein.
Vor dem Haus blinzelt Casimir Paltinger in die Frühlingssonne. Im beigen Trenchcoat steht er vor dem LINZ09 Infocenter, dort, wo die jüdische Familie Samuely einst Kurzwaren verkaufte, nicht weit entfernt von ihrem Wohnhaus, dort, wo Hitler später die Brückenkopfgebäude bauen ließ.
Paltinger ist „Austria Guide“, staatlich geprüfter Fremdenführer. Die Tour, die unsichtbare und weitgehend unbekannte Seiten der Stadt offenbaren wird, heißt „Linz, verändert“. Auch das Haus am Brückenkopf wird noch bis Jahresende durch die Installation „Unter uns“ verändert bleiben. Wo die Fassade nämlich nur scheinbar bröckelt, hat die Künstlerin Hito Steyerl die Wegmarken der Vertreibung, Deportation und Rückkehr abstrahiert und in den Putz schlagen lassen.
Wie keine andere Stadt hat Linz seine NS-Vergangenheit wissenschaftlich aufgearbeitet. Durch LINZ09 gelangt dieser Teil der Geschichte nun auch ins Stadtbild, nicht nur „Unter uns“, auch die Ausstellung „Kulturhauptstadt des Führers“ im Schlossmuseum oder die temporären Markierungen von Stätten des NS-Terrors des Projekts „In Situ“ (Dagmar Höss, Monika Sommer, Heidemarie Uhl) rufen den nationalsozialistischen Alltag ins Gedächtnis.
Durch die schmalen Gassen der Altstadt führt der Weg weiter zum „Alten Markt“. Das Thema, mit dem er sich derzeit beschäftige, sei das rote Linz, erzählt Paltinger im Gehen. Er meine nicht allein die Sozialdemokratie, sondern auch kommunistische Einflüsse in der Stadt. Da gäbe es für ihn noch viel zu recherchieren: „Nach dem Vorbild der russischen Oktoberrevolution etwa bildeten sich in Linz 1918 Arbeiter- und Soldatenräte.“

Stadt der Brüche und Revolutionen

Überhaupt sei Linz schon immer eine Stadt der Brüche und Revolutionen gewesen: Im ehemaligen „Hotel Schiff“, wo nun der LINZ09-„Ruhepol“ mit Sitzkissen und Lärmdämmung eine Oase der Stille inmitten des geschäftigen Stadtkerns bildet, fand der Bürgerkrieg vom Februar 1934 seinen Ausgang. An der Promenade, dort wo Stephan Fadinger, der Anführer der Aufständischen während des oberösterreichischen Bauernkriegs 1626 tödlich verletzt worden ist, erinnert heute die „Geißelsäule“ an ihn: So lange sei er vor der Stadtmauer auf- und abgeritten, bis ihn die Kugel eines Schützen aus der belagerten Stadt traf.
Der „Alte Markt“ liegt ruhig in der Sonne, um diese Tageszeit ist hier wenig los, erst am Abend und in der Nacht füllen sich die Bars und Lokale der Linzer Altstadt.
Man müsse den Blick von den bunten Fassaden senken, um es zu bemerken, sagt Paltinger. Im Kopfsteinpflaster beschreiben helle Steine ein unscheinbares Rechteck, nicht viel größer als ein Würstelstand: „Hier stand die erste Linzer Synagoge.“
Linz hat eine weit zurückreichende, aber kaum bekannte jüdische Tradition: Seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts lebten jüdische Familien in der Altstadt, bis 1420 bestand ein Judenviertel, das nicht als Ghetto isoliert war: „Dann kam das Verfolgungsjahr: ,Taufe oder Feuertod‘ war die Wahl, vor die die Juden gestellt wurden“, fast alle hätten 1420 die Stadt verlassen, sagt Paltinger. An die Stelle der mittelalterlichen Synagoge baut man eine Dreifaltigkeitskapelle. Auch sie hat die Jahrhunderte nicht überdauert.

Torten- und Kirchenrekorde

Vieles aus der Vergangenheit, so scheint es, ist in Linz schwer zugänglich. „Linz möchte entdeckt werden, es ist das Kontinuum der Veränderung“, findet der Austria Guide. Es fehle der Stadt an kultureller Tradition, an Tradition an sich. Linz habe es aber geschafft, daraus einen Vorteil zu ziehen: den unverstellten, freien Blick auf die Zukunft. Auf dem Weg von der Altstadt zurück über den Hauptplatz bis an die Donau sieht man als Zeichen dieser Entwicklung die gläsernen Fassaden des Ars Electronica Centers und des Kunstmuseums Lentos, flussaufwärts schwebt der transparente Südflügel des Linzer Schlosses über dem Schlossberg. „Linz wird in zehn Jahren Salzburg und Graz den Rang abgelaufen haben“, glaubt Casimir Paltinger.
Die letzte Station ist der Neue Dom. Vom Landhaus, vorbei am Landestheater, gelangt man über die hellgrauen Pflastersteine der Herrenstraße ins Domviertel. Der Geruch nach warmer Kuchenmasse und Marmelade strömt aus der Konditorei Jindrak. Wo es die beste Linzertorte gibt, bei Jindrak oder Rath oder anderen, darüber will Paltinger nicht diskutieren. Fest steht: Die trockene Mehlspeise mit der Ribiselmarmelade und den Mandelsplittern ist die älteste bekannte Torte der Welt. Bereits 1653 wurde sie erwähnt.
Auch der Linzer Dom ist Rekordhalter: Er ist mit Platz für 20.000 Gläubige die größte Kirche Österreichs. Er wäre auch die höchste, hätte Wien nicht interveniert: Kein Bau durfte höher sein als der Stephansdom. So blieb der Linzer Dom rund zwei Meter niedriger.
Die freiwilligen „Turmeremiten“ stört das nicht, ihre temporäre Einsiedelei ist noch immer hoch genug, um Abstand vom Trubel auf dem Boden zu gewinnen. Auch die „Turmeremiten“, mit wöchentlich wechsselnden Gästen, ist ein LINZ09-Projekt. Womöglich wird es aber fortgesetzt, sagt Paltinger: „Linz verändert eben.“
Das wissen auch die „Rebellinnen!“: Sie laden mit ihrem Omnibus zur Reise an jene Plätze ein, die die Geschichte verändert haben. Wann wurden feministische Forderungen laut? Wie veränderten soziale Kämpfe die Stadt? Drei verschiedene Bustouren werden angeboten. Genaue Infos dazu unter www.linz09.at/rebellinnen.


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