Neuer Nationalismus

Cameron, Erdoğan, Netanjahu – jeder gibt auf seine Weise Antwort auf eine Frage, die immer gefährlicher werden wird: Wer gehört zu uns?

Was ist eine Nation, was ist ein Volk? Diese Frage ist hier nicht mehr diskutiert worden, seit Jörg Haider vor 26 Jahren vom österreichischen Volk als „ideologischer Missgeburt“ geredet hat. Dennoch ist sie alles andere als irrelevant. Betrachten wir etwa das von Israels Premier Benjamin Netanjahu betriebene Gesetz, das Israel formell zum Nationalstaat des jüdischen Volkes erklären soll.

Es ist hier nicht der Platz, um über die Untiefen dieses Gesetzes zu reden, von dem viele prominente Juden befürchten, dass es den schon in der Unabhängigkeitserklärung von 1948 angelegten inneren Konflikt eines „jüdischen Staates im Lande Israel“, der aber „all seinen Bürgern ohne Unterschied von Religion, Rasse und Geschlecht soziale und politische Gleichberechtigung“ verbürgt, vollends zulasten der Minderheiten entscheiden würde. Aber das Gesetz lädt ein, wieder einmal zu realisieren, wie unterschiedlich die Begriffe von Volk und Nation sind. Wie unterschiedlich je nach Kulturkreis die Antwort auf die Fragen ausfällt: Haben wir eine Heimat? Und: Wer sind „wir“?

Es tut uns ganz gut, daran erinnert zu werden, dass die Antwort nicht überall so pragmatisch ist wie bei uns: Der Nation gehört an, wer die Staatsbürgerschaft hat – ohne, dass man dazu irgendwie „sein“ müsste. Wenn man hinhört, erkennt man trotzdem überall Abwandlungen der Frage, wer „wir“ sind, die das Recht haben, „hier“ zu Hause zu sein. Allein in der vergangenen Woche: Wenn David Cameron einen EU-Austritt Großbritanniens an die Wand malt, falls die EU nicht zulassen will, dass sein Land europäische Einwanderer („Johnny Foreigner“) abschrecken darf. Oder wenn der türkische Präsident Erdoğan erklärt, dass es denen, „die von außen kommen“, gefalle, „unsere Kinder sterben zu sehen“. Oder wenn bekannt wird, dass der Fußballklub Real Madrid für seine Kooperation mit Abu Dhabi im Vereinswappen das Kreuz auf der 1920 hinzugefügten Königskrone weglässt. Oder wenn in Michigan eine Kontroverse losbricht, ob ein Kruzifix auf Gemeindegrund Bürgerrechte verletzt.

Nicht nur in Israel gibt es ein sich aufladendes Spannungsfeld zwischen „wir“ und „gleiches Recht für alle“. Dort ist es – wohl wegen der langen Leidensgeschichte – nur besonders deutlich. Mein Eindruck ist, dass die anhaltende Wirtschaftskrise auch anderswo die Frage neu stellt. Weil bei der Verteilung knapper werdender Ressourcen der Ruf „Wir zuerst!“ – und damit auch die halbstarken Antworten auf die Frage, wer und wie „wir“ sind – lauter wird. Mein Ansatz hat da schlechte Karten: „Wir“ sind alle, die hier sind.
Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

meinung@diepresse.com

diepresse.com/cultureclash

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.11.2014)

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