Kultur ist, was übrig bleibt. Gilt das auch für die Zivilisation?

Vom Figaro im Irrenhaus bis zu Presslufthämmern gegen Ninive: mehr als nur Irrsinn mit Methode.

Was ist Kultur? Das, woran man sich erinnert, wenn man alles andere vergessen hat, sagen die Franzosen. Eine Kulturnation, in der Tat! Nie noch habe ich eine bessere, schönere, treffendere Definition eines Begriffs gehört, der so schwierig zu interpretieren ist wie dieser: Kultur. Warum eigentlich ist er vom Negativen her leichter zu beschreiben? Was Kulturlosigkeit ist, glauben wir zu wissen. Der andere, positive Teil ist viel schwerer zu umreißen.

Vielleicht deshalb, weil es zu Beginn des 21. Jahrhunderts und – wohlgemerkt – des dritten Jahrtausends immer mehr Varianten der Unkultur gibt, als wir uns vorstellen können. Sie greifen in alle Facetten des Lebens ein, und sie werden zumeist erkannt, aber relativ selten gerügt. Wer wagt schon, eine 65-Jährige zu tadeln, weil sie, wie das in Berlin geschehen ist, von verschiedenen Vätern dreizehn Kinder geboren hat und jetzt durch künstliche Befruchtung zusätzlich Vierlinge erwartet?

Kultur ist, woran man sich erinnert, wenn man alles andere vergessen hat. Kultur ist, wenn man zu verhindern sucht, dass Negatives das Positive besiegt. Solches gelingt nur ganz selten. Kultur ist, wenn man das Althergebrachte, etwa die Tradition, nicht gleichsam automatisch als Spießbürgertum abtut (ein Wort, über das noch viel Erklärendes geschrieben werden muss).

Kultur ist offenbar gemeint, wenn eine Neuauflage von „Le nozze di Figaro“ in ein Asyl transferiert und allen Ernstes sogar aufgeführt werden kann. Warum dann nicht gleich den Chor der Gefangenen in „Fidelio“ als Auschwitz-Häftlinge auftreten lassen! Ein kostenloser Ratschlag für moderne Regisseure, als Griff in wohlfeile ideologische Verfremdung.


Noch einmal: Kultur ist, woran man sich erinnert, wenn man alles andere vergessen hat. Es gibt die Erinnerungskultur. Was ich vergessen will, wird aus dem Gedächtnis gleichsam hinausgestoßen. Nein, nicht von 1945, dem Kriegsende und der neugewonnenen Freiheit soll die Rede sein. Über sie, und auch über jene, die als diesbezüglich zweifelhafte Wanderprediger und Parteihistoriker gefragt sind, ist noch zu erzählen.

Aber warum nicht darüber reden, dass wir miterleben, wie ein Teil unserer Zivilisation mit voller Absicht in Schutt und Asche gelegt wird, weil offenbar nur aus Ruinen neues Leben entspringen kann? Jenes, das unseren Vorstellungen entspricht, muss verschwinden. Nimrod, Mossul und Ninive sind Namen, die aus dem Bewusstsein der Menschheit gelöscht werden sollten – mit Sprenggranaten und Pressluftbohrern. Ist es verfehlt zu behaupten, dass die Urheber das absolute Böse personifizieren?

Einer der letzten Päpste hat den Satan zur Verblüffung der vermeintlich Aufgeklärten nicht nur als Prinzip, sondern auch als Person genannt. In einer Zeit, da uns von Nachgeborenen gelehrt wird, das absolute Böse zu Recht vor allem im Zweiten Weltkrieg und den damals Handelnden zu erkennen, wird immer wieder die Frage gestellt, ob für die Mörderbanden des IS noch die Bezeichnung „Terroristen“ genügt. Sie sind allesamt Schwerverbrecher. Mehr noch: Sie sind Teufel.

Aber wir sind ja aus begreiflichen Gründen dagegen, mit ihnen, wenn man ihrer habhaft wird, kurzen Prozess zu machen. Nicht zuletzt die NGOs und das Menschenrecht wären dagegen. Und das Menschenrecht gilt ja auch für das absolute Böse.

Der Autor war langjähriger Chefredakteur und Herausgeber der „Presse“.
E-Mails an: thomas.chorherr@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.04.2015)

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