Die Vierundfünfziger-Karte

Eine Fußball-Eintrittskarte aus dem Jahr 1954 verschwindet bei einem Grillfest. Liebhaber würden dafür 200 Euro bezahlen.

Lösen Sie den Fall
Wer war der Dieb?

Es war einer jener Pflichttermine, die mehr Vergnügen als Last sind. Grillen der Mieter im gemeinsamen Hinterhof, der dank der Anstrengung aller Parteien ein wucherndes Paradies war. Selbst meine Chefin Ed Miller und ich, als einzige Geschäftsmieter des Hauses, trugen unser Scherflein bei, indem wir die zwölf Paradeisstauden pflegten. Die Vögel zwitscherten, die Holzkohle mühte sich redlich, ins Glühen zu kommen. Ich knabberte an einer frühreifen Cherrytomate, und Ed, in einem sommerlichen Zitronen-Kiwi-Kleid, schwebte mit einem Tablett voller Kanapees von einem Campari schlürfenden Nachbarn zum anderen.

Es wäre alles perfekt gewesen, wenn sich nicht der Huber von Tür zwei mehr als die Hälfte der Kanapees auf seinen Teller geschoben hätte. Okay, der Gierschlund war seit vier Monaten arbeitslos, aber . . . „Das ist echt kein Benehmen“, zischte sogleich die Vierer-Fellner, die ihm vor zwei Monaten das Geld für die Stromrechnung geborgt und noch nicht wiedergesehen hatte. Die Dreier-Kraus nahm ihn sofort in Schutz, betont allgemein menschenfreundlich, obwohl jeder weiß, dass sie schwerst in ihn verliebt ist und ihm ihrerseits liebend gern den letzten Cent und überhaupt alle Schätze der Welt gegeben hätte, nur um endlich von ihm bemerkt zu werden.

Ja, fast perfekt, wenn sich nicht der Schmitz, dieser Student aus Köln von fünf, zu mir gesetzt und zu fachsimpeln begonnen hätte. Natürlich über die EM. Und er als Deutscher sah sich klarerweise als der Experte. Das lockte die sich bis dahin in der Sonne räkelnde Gruber von sechs aus der Reserve, denn die hat im Gegensatz zu Schmitz wirklich Ahnung von Fußball. Sie stritten sich dermaßen heftig, dass der Petrovic von sieben auf den Plan gerufen wurde. Und er tötete alles ab, indem er verkündete: „Is sowieso nix so gut wie das Vierundfünfziger-Team.“ Und da niemand zum tausendsten Mal hören wollte, wie er als kleiner Bub gemeinsam mit seinem Vater von Wien nach Zürich zum Spiel um den dritten Platz getrampt war, fielen wir in kollektives Schweigen.

Das zum Glück im nächsten Moment von den Bergers von acht, der letzten Wohnung oben neben Petrovic, mit einem lauten Hallo unterbrochen wurde. Die beiden hatten ein fremdes Pärchen im Schlepptau. Sarah Berger zeigte auf die – extrem hübsche, dunkelhaarige, wohlgerundete . . . äh – Frau und meinte: „Das ist meine Ur-hoch-sieben-Cousine oder so“, sie lachte, „Sylvia aus Uruguay. Ihr Bruder Mario.“

Während des Händeschüttelns und Wangenküssens erfuhr ich, dass die Madonna, die übrigens ein entzückendes Deutsch sprach, eine Nachfahrin von jüdischen Exilanten und nun auf der Suche nach ihren Wurzeln war, auch, weil sie ein Buch über die Geschichte der österreichisch-uruguayischen Beziehungen schreiben wollte. Bei ihren Recherchen war sie auf Sarah gestoßen, deren Großmutter in England . . . ich schweife ab. Jedenfalls legte sich Petrovic' Bass über das Geschnatter: „Uruguay. Haben wir damals im Vierundfünfziger-Jahr betoniert. Drei zu eins.“

Ed verdrehte die Augen, mit ihr die Fellner, die Gruber, der Schmitz, die Blaus und meine Wenigkeit. Sylvia und Mario, als wohl einzige ansatzweise interessierte Gäste, lauschten ihm. Zu meinem Ärger drängte sich auch Huber ganz nah an die Cousine, der Schleimer. Die Kraus beobachtete ihn ebenfalls mit Argusaugen. Nach einer Ewigkeit kam Petrovic zu seinem üblichen Höhepunkt: „Ich hab die Eintrittskarte noch immer!“ „Unglaublich!“, Sylvia. „So einen Schatz hätt ich auch gern“, Huber. „ Impresionante“, Mario. „Ja, ja. Damals schon teuer, zehn Franken, das waren knapp sechzig Schilling, das sind jetzt inflationsbereinigt“ – ich wunderte mich, dass er dieses Wort kannte – „an die vierzig Euro! Viel Geld damals, aber jetzt! Jetzt is die ein Vermögen wert“, schloss er wie immer stolz lächelnd.

Na ja, Vermögen, aber ein, zweihundert Euro konnte sie unter Freaks schon bringen. Jetzt noch der Abschluss, nämlich dass die eingerahmte Karte direkt unter dem Kreuz im Schlafzimmer . . .

Nein, das kam nicht, wahrscheinlich weil Sylvia angesichts der Steaks jubilierte, die die Fellner auf den Grill legte. Es war nur mühsam, für jeden Korb Nachschub in die Wohnung von Petrovic im dritten Stock stapfen zu müssen, denn nur er, logisch, beherrschte die richtige Temperierung in der Wanne. Doch weil er immer großzügig war, nahmen wir diese Spinnerei hin und wechselten uns bei der Bergtour ab. Dieses Mal hatten die Kraus und ich die A . . . karte gezogen. Und so waren alle halbwegs entspannt, bis – zu meinem Leidwesen – auf Sylvia, die aufgrund der Zeitumstellung Verdauungsprobleme hatte und sich zweimal kurz in die Wohnung der Blaus zurückzog, und zwar immer dann, wenn ich endlich mit ihr allein plaudern konnte, und obwohl Ed und ich unsere Toilette im Erdgeschoß für alle zur Verfügung gestellt hatten. Ich gestand mir ein, dass meine Chancen bei ihr nicht so toll waren.

Dann kam ansatzlos das Gewitter. Wir rafften alles zusammen und brachten es in die Wohnung der Blaus, die in solchen Fällen immer als Ausweichquartier dient. Nachdem wir uns installiert hatten und die Steaks nun in der Pfanne brutzelten, grinste Petrovic Sylvia an und verschwand in seiner Wohnung gegenüber. Wie peinlich! Auch er baggerte, der Tattergreis, und jetzt holte er seinen Schatz und . . . schrie. Wie ein verwundeter Bär. Wir rannten zu ihm. Er war im Schlafzimmer, kreidebleich, zitternd, und deutete auf den weißen, rechteckigen Fleck unter dem Kreuz.

Betretenes Schweigen. Ed tätschelte Petrovic' Arm: „Das haben wir gleich.“ Sie wandte sich an uns. „Natürlich kann jeder beim Toilettengang raufgerannt und die Karte gestohlen haben. Aber warum ausgerechnet heute? Weil wir Gäste haben, denen man die Schuld in die Schuhe schieben kann. Und auch will.“ „Oder die es wirklich selber waren“, knurrte Petrovic.“ „Ja, aber bedenken Sie nicht nur die unverdächtige Gelegenheit, mein Guter, die vier von uns hatten.“ Da ich wusste, dass ich es nicht gewesen war, ahnte ich, wen Ed verdächtigte.


Wen hat Ed Miller in Verdacht?

Die Autorin

Sabina Naber
arbeitete nach ihrem Studium als Regisseurin, Journalistin und Drehbuchautorin. 2002 erschien ihr erster Roman in der Serie mit Kommissarin Maria Kouba. 2007 erhielt sie den Friedrich-Glauser-Preis für die beste Kurzgeschichte. Der Roman „Marathonduell“ wurde 2013 für den Leo-Perutz-Preis nominiert.


Wolfgang Kalal

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.06.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.