Als Macron Frau Merkel traf: Gibt es die Bussigesellschaft noch?

Ein Sittenwandel auch bei Begrüßung und Verabschiedung − gilt "einmal ist keinmal" auch am Flugplatz?

Was ist der Unterschied zwischen Kuss und Bussi? Die deutsche Sprache hat ihre Eigenheiten. Rühren, berühren – derselbe Wortstamm, eine völlig andere Bedeutung! Oder doch nicht? Bei beiden ist das Herz im Spiel. Es gibt Momente, Situationen, Szenen, die wirklich nur Augenblicke sind, vielleicht nur blitzschnell und gleich wieder vorbei, gerade so lang, wie es dauert, das Taschentuch zu den Augen zu führen. Die Tränen zu unterdrücken, deren Ursache wir nicht ergründen können. Ist es Trauer, ist es Freude? Oder ist es nichts als Gewohnheit?

Seit geraumer Zeit ist auch bei uns das nicht mehr außergewöhnlich, was anderswo schon längst Usus ist: die Bussi-Bussi-Gesellschaft. Sie ist seit Langem vor allem in Frankreich, sogar in England gebräuchlich gewesen. Ursprünglich war die Bussi-Bussi-Gesellschaft gleichsam für die Öffentlichkeit bestimmt und galt als Demonstration der Verbundenheit, die keineswegs eine der Gefühle darstellen musste. Man zeigte eine Zuneigung, die man nicht hegte. Die Bussi-Bussi-Gesellschaft war und ist eine Show.

Es hat Zeiten gegeben, da konnte man den Kuss vom Bussi (oder „Busserl“, wie man sagte) streng unterscheiden. Der Kuss war Zeichen der Ehrfurcht, der Verehrung gar, das Busserl hinwieder galt gleichsam als schnelles Begrüßen oder Verabschieden, eine Art von Ritual, das nichts zu bedeuten hatte. Der Fußkuss als Demonstration der geistigen Verneigung ist in manchen Orten und zu manchen Gelegenheiten noch heute gebräuchlich.


Nicht ganz so beim Papst. Er kniet noch immer nieder, wenn er ein neues Land betritt, und dies tut der Pontifex Maximus heute noch, zur Verblüffung der Fernsehzuschauer. Der letzte, der dies fast bis zum Überdruss praktizierte, war Johannes Paul II. Er war jenes Kirchenoberhaupt, das nicht nur das längstdienende war, nämlich mehr als zweieinhalb Dezennien im Amt, sondern auch der Papst, dessen Reisekalender der umfangreichste gewesen ist. Mag sein, dass er die politischen Grenzen als erster wieder bedrückend spürte, weil der Pole Karol Wojtyla seit dem Mittelalter wieder das Papsttum aus Italien in ein anderes Land geholt hatte, noch dazu in ein Land des ehemaligen Ostblocks.

Und weil wir gerade bei außergewöhnlichen Kussplatzierungen sind: Kaum in einem anderen Gebiet als Österreich ist es nach wie vor üblich, dass Herren Damen die Hand küssen. Mit Betonung auf Herr und Dame, nicht Männer und Frauen. Das alles sind beziehungsweise waren Sitten, die anderswo längst nicht mehr gebräuchlich scheinen.

Nicht einmal mehr in Ländern, die einst zum politischen Osten gehörten und heute sich auch in dieser Hinsicht voll und ganz dem Westen angegliedert haben. Früher haben einander KP-Bonzen küssend begrüßt, und zwar offenbar nach einem feststehenden Zeremoniell: mit Wangenküssen, mehrmals links, mehrmals rechts, die genaue Zahl ist offen. Genauso wie die Frage, ob das Begrüßungszeremoniell, das sich auch in den westlichen Staaten durchgesetzt hat, und zwar selbst bei Personen, die einander kaum kennen, beim ersten Zusammentreffen wirklich Küsse sind, und seien es nur flüchtige. Oder am Ende gar wirklich herzliche. Wer im Fernsehen erlebte, wie Angela Merkel und Emmanuel Macron beim ersten Treffen Küsse austauschten, konnte die Frage, worum es ging, nicht beantworten. Nur eines: Es waren keine Busserln.

Der Autor war langjähriger Chefredakteur und Herausgeber der „Presse“.
E-Mails an: thomas.chorherr@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.07.2017)

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