Fahrerflucht

Sieben Uhr! Verärgert griff Beck nach dem Handy. Nicht einmal am Sonntag hatte man seine Ruhe! Am Apparat war Joe Wöhl, der Leiter des kriminaltechnischen Dienstes.

„Kurt, entschuldige die Störung, aber ich brauche deine Hilfe! Gestern ist kurz vor Mitternacht ein junger Mann in Traun niedergefahren worden. Der Unfalllenker hat Fahrerflucht begangen. Ein Zeuge hat unmittelbar vorher ein rotes Cabriolet an der Unfallstelle gesehen. In ganz Linz gibt es nur drei Fahrzeuge, auf welche die Beschreibung zutrifft."

„Aber...", wollte Beck einwenden, denn Verkehrsdelikte fielen eigentlich nicht in seinen Zuständigkeitsbereich.
„Mein Freund heiratet heute Nachmittag in Graz, und ich bin sein Trauzeuge. Spätestens um zehn muss ich mich auf den Weg machen. Leider will der Chef, dass ich mich sofort um die Angelegenheit kümmere. Das Unfallopfer ist nämlich der Sohn eines Bekannten. Wenn ich die Fahrzeuge kriminaltechnisch untersuchen muss, kann ich die Hochzeit vergessen. Deshalb wollte ich dich bitten, ob du die Halter befragen kannst, wo sie zur fraglichen Zeit waren. Eine Mail mit den Namen und Adressen befindet sich bereits auf deinem Computer."
Begeistert war Beck nicht, dass er am frühen Morgen eine polizeiliche Ermittlung durchführen sollte, aber da er Joe einen Gefallen schuldig war, willigte er ein.
Er zog sich an, druckte die Mail aus und verließ das Haus.
Die erste Person, die er aufsuchte, war eine junge Frau namens Eva Roth.
„Was kann ich für Sie tun?", erkundigte sie sich, nachdem er ihr seinen Dienstausweis gezeigt hatte.
„Gestern Abend ist ein Unfall passiert, an dem ein rotes Cabriolet beteiligt war. Können Sie mir sagen, wo Sie sich gegen 24.00 Uhr aufgehalten haben?"
Frau Roth warf ihm einen unschuldigen Blick zu.
„Aber Sie glauben doch nicht..."
„Natürlich nicht", kam er ihr zuvor. „Es handelt sich nur um eine Routineüberprüfung."
„Also, zur fraglichen Zeit war ich im Royal Dance."
„Gibt es dafür Zeugen?"
Sie zuckte mit den Schultern.
„Leider war ich ohne Begleitung unterwegs."
„Glauben Sie, dass sich jemand an Sie erinnern kann?"
„Was für eine Frage? Das will ich doch stark hoffen, nachdem ich fast zwei Stunden damit zugebracht habe, mich für den Abend herzurichten."
Beck sah keinen Grund, am Wahrheitsgehalt ihrer Aussage zu zweifeln. Deshalb machte er sich auf den Weg zur nächsten Person, die auf Wöhls Liste stand. Als er die angegebene Adresse erreichte, fiel ihm sofort das rote Cabrio auf, das am Straßenrand parkte. Es war blitzblank gewaschen und poliert. Beck stellte seinen Wagen hinter dem Fahrzeug ab. Er ging einmal um das Cabrio herum und untersuchte es auf Spuren. Mit bloßem Auge war nichts Verdächtiges zu erkennen.
„Kann ich Ihnen behilflich sein?", vernahm er plötzlich eine Stimme hinter sich.
Beck drehte sich um.
„Herr Luft?" Der junge Mann schaute ihn verwundert an und nickte.
„Putzen Sie Ihr Auto immer so zeitig am Morgen?"
„Das mache ich jeden Sonntag. Warum fragen Sie?"
„Gestern war ein rotes Cabrio wie Ihres in einen Unfall verwickelt und ich..."
„Ach, deshalb sind Sie so um das Auto herumgeschlichen", fiel ihm Karl Luft ins Wort. „Ich dachte schon, Sie haben es auf meinen Wagen abgesehen. Man kann ja nicht vorsichtig genug sein heutzutage. Übrigens, gestern war ich den ganzen Abend zuhause."
„Gibt es dafür Zeugen?"
„Leider nicht."
„Was macht ein junger Mann wie Sie an einem Samstagabend allein zuhause?"
„Ich hatte keine Lust auszugehen. Außerdem wurde der neue James Bond ausgestrahlt. Den wollte ich mir nicht entgehen lassen."
Beck warf ihm einen wehmütigen Blick zu. Er hatte sich die ganze Woche auf diesen Thriller gefreut, aber seine Frau hatte ihn genötigt, mit ihr eine Rosamunde-Pilcher-Verfilmung anzuschauen. Nicht gerade die Unterhaltung, die er sich an einem Samstagabend wünschte. „Und wie war er? Mir ist leider etwas dazwischengekommen."
„Ich kann Sie trösten, Sie haben nichts verpasst. Ich bin mitten im Film eingeschlafen. Gegen Mitternacht bin ich vor dem laufenden Fernseher aufgewacht und ins Bett gewankt."
„Und es gibt niemanden, der das bestätigen könnte?"
„Leider nein! Aber Sie können ruhig den Wagen überprüfen. Sie werden sicher nichts finden, was auf eine Beteiligung an einem Unfall hinweist."
Beck bedankte sich bei dem Mann und machte sich auf den Weg in die Wiener Straße, wo Max Kraus, der Dritte auf der Liste, wohnte.
Joe hatte neben dem Namen vermerkt, dass Kraus bereits zweimal der Führerschein wegen Trunkenheit am Steuer abgenommen worden war.
Dem Mann sah man an, dass er am Vorabend mehr als einen über den Durst getrunken hatte. Er starrte Beck mit blutunterlaufenen Augen an. „Was wollen Sie von mir in dieser Herrgottsfrühe?", krächzte er.
„Eine Auskunft. Wo waren Sie gestern kurz vor Mitternacht?"
„Wer will das wissen?"
Beck hielt ihm seinen Dienstausweis unter die Nase.
Kraus legte die Stirn in Falten.
„Wenn ich mich recht erinnere auf dem Nachhauseweg."
„Zu Fuß?"
„Mit dem Wagen. Ich war mit meiner Freundin im Imperial."
Der kürzeste Weg vom Imperial zu Kraus' Wohnung führte über die Straße, in welcher der Unfall passiert war.
„Sind Sie gefahren?"
Kraus hob abwehrend die Hände. „Natürlich nicht! Ich habe ein bisschen zu viel getrunken. Deshalb hat sich meine Freundin hinter das Steuer gesetzt."
„Kann ich mit Ihrer Freundin sprechen?"
Kraus schüttelte den Kopf.
„Als ich aufgewacht bin, war sie schon weg."
„Und der Wagen?"
„Den hat sie mitgenommen."
Auch wenn er das Gefühl hatte, das Kraus nicht die Wahrheit sagte, hatte er keinen Beweis gegen ihn in der Hand. Klarheit konnte nur die kriminaltechnische Überprüfung der Fahrzeuge verschaffen. Armer Joe! Die Hochzeit konnte er jedenfalls vergessen. Er holte sein Handy aus der Tasche und wählte Wöhls Nummer. Plötzlich huschte ein Lächeln über seine Lippen. Wie hatte er das nur übersehen können!
„Du kannst getrost nach Graz fahren", teilte er seinem Kollegen mit. „Ich weiß auch ohne Überprüfung des Fahrzeugs, wer den Unfall verursacht hat."

Frage: Wen verdächtigt Beck? Und wodurch hat sich die Person verraten?

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Der Autor

Ernst Schmid ist Hauptschullehrer in Oberösterreich, hat bereits zahlreiche Gedichtbände und Kriminalromane („Totschweigen“, „Katzenblut“) veröffentlicht und dafür mehrere Preise erhalten, darunter den Theodor-Körner-Förderpreis des Landes Oberösterreich.
www.krimiautoren.at

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