Der kleine Unterschied

Vom Unterschied zwischen „Man sieht sich“ und „Ruf ma sich z'samm“. Und warum „fast“ hier so gut wie nie „beinahe“ bedeutet.

In meiner Anfangszeit in Wien bin ich einmal in eine peinliche Situation geraten. Ich hatte ein Fahrrad zur Reparatur gegeben, und als ich es abholen wollte, teilte mir der Verkäufer mit, dass er nicht nur wie vereinbart die Gangschaltung repariert, sondern auch noch einen defekten Bremszug ausgetauscht habe. Auf meine Frage, ob der Kostenvoranschlag jetzt noch gelte, meinte er: „Für den Zug muss ich Ihnen fast was verrechnen.“ Gott sei Dank nur fast, dachte ich und wollte schon den ausgemachten Preis zahlen. Erst an der peinlichen Pause, die entstand, merkte ich, dass ich da etwas missverstanden hatte.

Was ich damals noch nicht wusste, war, dass die Österreicher mit dem Wörtchen „fast“ nur in den seltensten Fällen „beinahe“ meinen. „Mir wäre fast lieber“ ist hierzulande eine ebenso gängige wie klare Willensbekundung. Die zusätzliche Abschwächung durch den Konjunktiv „wäre“ verrät, was dem Österreicher ein Gräuel ist: die bestimmte Feststellung dessen, was er möchte. Die hiesige Alltagsrhetorik mäandert unentwegt um das zu Sagende herum – ein Alptraum für den nach schamloser Klarheit gierenden Deutschen.


Ein schönes Beispiel verdanke ich einem „Facebook“-Posting von einem Landsmann namens Kai Sann: Begegnen sich zufällig zwei Deutsche, die wenig verbindet und das auch nicht zu ändern gedenken, dann wechseln sie beim Abschied eine möglichst unverbindliche Floskel wie „Man sieht sich“. In Österreich ist man in solchen Fällen charmanter und sagt: „Ruf ma sich z'samm!“ Zum Problem wird das erst, wenn eine solche Begegnung eine deutsch-österreichische ist. Dann kann es vorkommen, dass der Deutsche in einem Anflug von Ordnungssinn noch rasch die Telefonnummern austauscht und – kleine Warnung an meine einheimischen Mitbürger! – am Ende auch noch anruft.

Ganz heikel sind solche Fälle uneigentlicher Rede, wenn mein Landsmann zur verbreiteten Spezies der Schnäppchenjäger gehört. So haben wir bei einer Burma-Reise einmal einen Kölner kennengelernt. Wir haben eine schöne Wanderung miteinander gemacht, waren zusammen essen, und als sich unsere Wege trennten, meinte meine Freundin zu ihm: „Wenn du mal nach Wien kommst, musst duuns unbedingt auf einen Kaffee besuchen.“ Hände wurden geschüttelt, nette Dinge gewünscht, Adressen getauscht. Bald nach der Rückkehr kam ein Mail des Kölners, in dem er uns mitteilte, dass er schon seine nächste Reise plane, nichts Großes, nur ein, zwei Wochen Wien, mit seiner neuen Freundin. Übrigens gedenke er, noch ganz erfüllt von der tollen Zeit in Burma, bei uns zu wohnen.

Die Antwort mit der Botschaft honigsüßen Abwimmelns habe ich dann doch meiner Freundin überlassen. Wofür hat man schließlich eine Österreicherin an seiner Seite?

dietmar.krug@diepresse.com diepresse.com/diesedeutschen

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.09.2010)

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