Einer der Dieb, einer der Erlöser: Auf einen Menschen kommt es an

Wer widersetzt sich, wenn krasses Unrecht geschieht? Wer geht in einer heiklen Situation voran? Wer gibt den Ton an?

"Ihr bedenkt nicht, dass es besser für euch ist , wenn ein einziger Mensch für das ganze Volk stirbt, als wenn das ganze Volk zugrunde geht." (Joh 11,50)

Im Sommer war ich mit fünfzig Jugendlichen zwei Wochen lang mit Rucksack und Schlafsack unterwegs. Es war eine ziemlich wilde Horde, die meisten von ihnen hatten jahrelang auf der Straße gelebt. Der Höhepunkt sollte das Geburtstagsfest für unseren Pater werden.

Tage vorher schon hatten wir Lieder gelernt, Gedichte geschrieben, ein Theaterstück geprobt. Dann endlich versammelten wir uns in einem zum Festsaal umgemodelten Lagerraum. Die Band brachte alle in Stimmung, das Fest sollte beginnen. Plötzlich Aufregung. Markus rief: „Mein Geld ist weg!“ Er hatte es in seinem Rucksack versteckt, doch da war nur noch die leere Börse. Einer unserer Jugendlichen musste der Dieb sein.

Heftige Diskussionen brachen aus. Einzelne wurden beschuldigt, bis jeder jeden verdächtigte. Das Fest war geplatzt, es wurde ein trauriger Abend. Am nächsten Tag konnten wir nichts unternehmen; der Kameradschaftsdiebstahl war zu belastend, dazu das dauernde Fragen, wer der Täter sein könne.

Vor der Abreise untersuchten die Erzieher Rucksack um Rucksack. Schließlich wurde das Geld gefunden: in der Hosentasche von D. Mir tat der Dieb leid, wie er dastand, entlarvt und verachtet, von der Gemeinschaft ausgestoßen.

Wäre es besser gewesen, man hätte ihn nicht erwischt? Das Gute an der Situation war, dass die allgemeine Verdächtigung ein Ende hatte. Manche umarmten sich vor Erleichterung. Was sollten wir mit D. tun? Zuhause würden wir uns um ihn besonders kümmern müssen.

Die Stimmung in Jerusalem war angespannt, als Jesus öffentlich auftrat. Immer wieder kam es zu Unruhen im unterdrückten Volk, immer wieder wurden Aufständische von den Römern gekreuzigt. Das Volk hatte Angst.

Der Hohe Rat war in berechtigter Sorge und diskutierte, was von diesem Jesus und seiner Bewegung zu halten sei. Würde er das Fass zum Überlaufen bringen und die römischen Besatzer so reizen, dass es zu noch brutaleren Maßnahmen kam? Sogar von der Zerstörung des Tempels war schon die Rede.

Da verteidigte der Hohepriester Kajaphas seinen Vorschlag Jesus den Römern zu übergeben: „Ihr bedenkt nicht, dass es besser für euch ist, wenn ein einziger Mensch für das Volk stirbt, als wenn das ganze Volk zugrunde geht.“ Die Heilige Schrift qualifiziert dieses Wort ausdrücklich als prophetisch und geistvoll, nicht als böse. Den einen zu opfern kann die Katastrophe abwenden. Nicht eine Idee, nicht die vielen, sondern der eine war die Lösung. Er wurde zum Erlöser.

Das Menschenbild der Bibel stellt den Wert der einzelnen Persönlichkeit heraus. Der Mensch ist von Gott geschaffen, ihn erwählt Gott als Partner: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich ausgelöst, ich habe dich beim Namen gerufen, du gehörst mir.“ (Jes 43,1). Dem entspricht die Weisheit aus dem Talmud: Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt. Der einzelne Mensch zählt. Demokratie schützt vor Machtmissbrauch, ein Team stärkt, doch alle Strukturen leben vom einzelnen Menschen. Einer war der Dieb, einer der Erlöser.

Wer widersetzt sich, wenn Unrecht geschieht? Wer geht in einer heiklen Situation voran? Wer gibt den Ton an?

Bimail steht für Bibelmail, ein wöchentliches Rundschreiben des Teams um Pater Georg Sporschill, adressiert an Führungskräfte. Darin werden Lehren aus der Bibel auf das Leben von heute umgelegt.


E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.11.2010)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.