Vom Kind in der Krippe, dem Ende am Kreuz und der Macht

Weihnachtsspaziergang. In der Politik ist Machtmissbrauch unvermeidlich, es gibt ihn aber auch in einer Kirche des prinzipiellen Machtverzichts.

Macht erringen zu wollen gehöre zur Politik, sei aber auch eine Versuchung, sagen Skeptiker und zitieren Lord Acton, wonach Macht korrumpiere – und absolute Macht absolut korrumpiere.

Was ist „Macht“? Nach der Definition von Max Weber bedeutet Macht „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“.

Quelle der Macht kann also Überredung oder Vorteilsgewährung sein, Sanktionsdrohung oder Gewalt usw. Macht kann nicht einfach aus der Gesellschaft verschwinden. Den Vorrang hat zwar die Freiheit, aber will einer seine Freiheit realisieren, muss er von „Macht“ – in welcher Form immer – Gebrauch machen. Macht steckt in allen gesellschaftlichen Verhältnissen, auch in sexuellen und in Erkenntnisbeziehungen, wie Michel Foucault gezeigt hat. Macht, so stellte der Philosoph fest, „ist nicht eine Institution, ist nicht eine Struktur, ist nicht eine Mächtigkeit einiger Mächtiger. Macht ist der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt“.

Die zweideutige Macht

Wenn Macht das Apriori unseres Handelns ist, dann, so könnte man meinen, ist Macht zwar missbrauchsanfällig, aber eine prinzipiell wertneutrale Gegebenheit.

Doch nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts wollen die meisten Menschen der Macht nicht einfach ein Unbedenklichkeitszeugnis ausstellen. Politische Macht gilt als zweideutig, gefährlich und oft zum Schlechten geneigt. Sie orientiert sich nicht nach der Wahrheit, strebt immer wieder nach Übermacht und bedarf zu ihrer Zivilisierung ausgeklügelter Gegenmacht und Kontrolle. Wie steht es mit der Macht im institutionell verfassten Christentum? Soll es sie überhaupt geben?

„Jesus verkündete das Reich Gottes; gekommen ist die Kirche.“ Dieses 110 Jahre alte Wort des Theologen Alfred Loisy, den Rom später (als einen der Begründer des „Modernismus“) exkommunizierte, wird von Kritikern gern – und oft einseitig – zitiert. Sei nicht die Papstkirche einer absoluten Monarchie nachgebildet? Wie oft hätten Christen daran Anstoß genommen!

Gewiss brennen keine Scheiterhaufen mehr, der Papst ruft nicht zu Kreuzzügen auf, der Index librorum prohibitorum ist längst verschwunden. Aber, so fragen Kritiker, wann spüre man in der Kirche die unbedingte Geltung von Jesu Satz: „Ihr wisst, dass die Mächtigen die Macht über die Menschen missbrauchen. Bei euch soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der muss euer Diener sein.“ Wo spürt man das noch? Hat sich die Kirche der „Welt“ nicht viel zu sehr angepasst? Solcherart räsonieren viele und empfinden eine schmerzhafte Distanz zwischen dem weihnachtlichen Bild vom machtlosen Kind in der Krippe und der kanonisch abgesicherten Macht auf dem Thron.

Die sündenanfällige Kirche

Die meisten werden heute bei der Macht der katholischen Kirche an Geld und Besitz denken, an Schulen und in Konkordaten verbriefte Vorteile. Doch das soll hier weniger interessieren als der prinzipielle Machtaspekt in einer ursprünglich auf Machtverzicht durch das Pfingstereignis gegründeten Kirche. Ja, es gibt die an Petrus (und die Jünger) übertragene Vollmacht, „zu binden und zu lösen“, es gibt die Autorität des Lehramts und den Gehorsamsanspruch der Bischöfe, kulminierend im römischen Jurisdiktionsprimat.

Wo es Macht gibt, gibt es auch Missbrauch. Die Kirche war nie frei davon – von den Gewaltexzessen bei den Kreuzzügen und einzelnen Phasen der Missionierung bis hin zur Pädophilie in Abhängigkeitsverhältnissen, von der römischen Missachtung ortskirchlicher Mitspracherechte bis hin zur verbreiteten Doppelmoral (wenn etwa die Kirchenleitung den Zölibat fordert, doch dessen faktische Nichteinhaltung routiniert duldet).

Für Theologen stammt Macht „aus der Sünde“ (ohne damit selbst Sünde sein zu müssen), ist also erlösungsbedürftig. In der Geschichte haben Christen immer wieder die extensive Institutionalisierung der Kirche für macht- und sündenanfällig gehalten.

Die Radikalität der Bergpredigt

Die einen glaubten, das Problem (wenigstens für sich selbst) durch Weltflucht oder Askese lösen zu können, andere (wie die Anhänger Joachim von Fiores) setzten auf eine rein gewaltlose Kirche des Heiligen Geistes – alles teils schwärmerische, teils gnostische Vorstellungen, die der irdischen Wirklichkeit nicht standhalten konnten.

Also ist Jesu Bergpredigt doch nur ein Gleichnis und keine lebbare Botschaft? Genau hier würde der nächste Fehler eines vermeintlich „geerdeten“ Christentums und seiner Hierarchen beginnen.

Auch die Kirche neigt nicht selten dazu, die Radikalität der Bergpredigt umzuinterpretieren: Sie gelte nur für die innere Einstellung oder das Privatleben, als Zielgebot, aber nicht als konkrete Verhaltensregel. Wer so denkt, für den war Jesus vermutlich kein Realist. Weiß die Kirche überhaupt noch – so hat der Theologe Norbert Lohfink einmal gefragt –, dass ihr Ursprung etwas mit Gewalt und Gewaltlosigkeit zu tun hat? Will sie überhaupt noch „Kontrastgesellschaft“ sein?

Lohfink bekannte, „ratlos vor der Verschwisterung der Kirche mit einer Gesellschaft zu stehen, die man beim besten Willen nicht auf der Seite Jesu, sondern nur auf der Seite derer einordnen kann, die Jesus vernichtet haben“.

Die Bestandsgarantie für die Kirche stützt sich nicht auf noch so große Buchstaben, wie sie in der Peterskuppel das (nicht authentische) Jesuswort verkünden „Tu es Petrus, et super hanc petram aedificabo ecclesiam meam“. Überlebt hat die Kirche in den Katakomben – auch Prachtkathedralen sind letztlich vergänglich. Und doch bleibt es die Kirche (und sind es nicht „Einzelkämpfer“), der der Auftrag Jesu auf dem Weg durch die Zeit anvertraut ist.

Heilige und Sünder

Deshalb versagen hier die gewöhnlichen Kategorien des Nachdenkens über die Macht. Das Konzil nennt die Kirche ein „Zeichen der Einheit und Werkzeug des Heils“. Doch zugleich haben wir es mit einer Kirche der Heiligen und der Sünder zu tun. Die Aufhebung dieses Widerspruchs für „machbar“ zu halten, wäre ebenso Täuschung wie jede Selbstbewunderung einer Kirche, die ihre innere Orientierungsspannung (das „Anderssein“) durch allzu viel Konformismus sediert.

Das Übel liegt nicht darin, dass die Kirche stets von Neuem eine Selbstreinigung braucht. Das Übel beginnt dann, wenn sich die Kirche dieser Einsicht und ihren Konsequenzen verweigert.

Wer seinen gedanklichen Weg beim Kind in der Krippe begonnen hat, weiß, dass dieser Weg beim Kreuz endet. Ohne den Glauben an die Auferstehung wäre der ganze christliche Glaube null und nichtig.

Die Überwindung des Todes, der Gewalt und des Sündenbock-Mechanismus hat schon mit der Geburt im Stall begonnen. Vor der Krippe werden alle „Throne“ zuschanden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.12.2010)

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