Culture Clash

Mikroaggressiver Müll?

Ein kleiner Sieg für die Meinungsfreiheit zeigt, welchen quasireligiös- dogmatischen Stellenwert Benimm-Codes an US-Universitäten erhalten haben.

Nathaniel Hiers war Mathematikprofessor an der University of Northern Texas, bis er 2019 im Aufenthaltsraum für Lehrpersonen einen Flyer fand, in dem es um Mikroaggressionen ging. Der Professor, der dieses Konzept (ich erläutere es im nächsten Absatz) für schädlich hält, schrieb an eine Tafel: „Bitte keinen Müll herumliegen lassen“ und machte einen Pfeil zum Flyer. Wenige Tage später wurde er von seinem Dekan gefeuert. Er habe sich geweigert, seine Meinung zu ändern, kein ehrliches Bedauern geäußert und kein extra Diversitäts-Training absolvieren wollen. Nun hat ein Gericht die Universität dazu verdonnert, dem Mathematiker 165.000 Dollar Schadenersatz zu zahlen.

In den USA ist das Augenmerk auf „Mikroaggressionen“ an den Universitäten fixer und essenzieller Bestandteil des Benimm-Codes geworden.Als Mikroaggressionen gelten alltägliche Äußerungen über oder gerichtet an Menschen einer marginalisiertenGruppe, die die Marginalisierung verfestigen und dieGefühle der Betroffenen verletzen (und damit sogar, wie es in einem Papier der Universität von New Hampshire heißt, „Migräne, Herzkrankheiten oderAutoimmunerkrankungen“ auslösen). Auf eine böse Absicht kommt es nicht an, sogar empathische Äußerungen können Aggressionen sein.

Beispiele aus offiziellen Papieren: „Für mich gibt es nur eine einzige Rasse – die Menschheit.“ „Woher kommen Sie?“ (als Frage an „People of Color“). „Als Frau kann ich nachfühlen, was es heißt, einer marginalisierten Rasse anzugehören.“ „Sie sollten unbedingt einmal Europa kennenlernen“ (man unterstellt, dass jeder reich genug ist, um zu reisen = „Klassismus“). „Sind Sie verheiratet?“ (generalisiert heteronormative Erwartungen). „Bei uns zählt nur die Leistung“ („Myth of Achievement“). Mikroaggressionen können auch nonverbal sein: etwa einen Asiaten bitten, bei der Mathematikaufgabe zu helfen. Oder die Straßenseite wechseln, wenn ein Schwarzer entgegenkommt. Wie gesagt, die Absicht spielt keine Rolle.

Kritiker des Konzepts sehen vor allem einen Schaden für die Marginalisierten selbst, deren Opferstatus damit unentrinnbar werde. Oder wie ich es ausdrücken würde: Wir haben die Pflicht, allen Mitmenschen mit Respekt und Taktgefühl zu begegnen, denn jedes Gegenüber ist ein einzigartiges Geschöpf voll Würde und Hoheit. Aber wie soll ein Mensch diese eigene Würde entdecken und Selbstbewusstsein und Sicherheit entwickeln können, der darauf getrimmt wird, sich fortwährend als Zielscheibe wahrzunehmen? Das Ganze als Müll zu sehen ist diskutierbar, aber weder irrational noch unanständig.


Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

meinung@diepresse.com

www.diepresse.com/cultureclash

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.09.2022)

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