Von Sprühnebeln in den Abgründen der deutschen Gründlichkeit

Oder: Wie Muttern die ökologische Schädlingsbekämpfung entdeckte.

Eine Kindheitserinnerung: Unser Nachbar legt den Zeigefinger an die Lippen, um mich zu absoluter Stille zu mahnen. Er steht da wie ein Indianer auf der Jagd, nur hält er keinen Speer in der Hand, sondern einen Spaten. Mit dem zielt er auf einen kleinen Erdhaufen, der sich ganz leicht hebt und senkt. Ein heimtückischer Eindringling ist gerade im Begriff, sein unterirdisches Zerstörungswerk im Zierrasen zu verrichten. Und zack! Erwischt hat der Nachbar das Mistvieh nicht, darum wird er ihm das nächste Mal mit einer wirksameren Methode auf den Pelz rücken: mit Maulwurfgas...

Eine weitere Erinnerung: Mein Vater sieht aus wie ein Raumfahrer, er hat eine Atemschutzmaske vor dem Gesicht und eine große gelbe Plastikflasche auf dem Rücken. Er geht langsam am Rand unseres Grundstücks entlang und sprüht aus einem Schlauch eine Flüssigkeit in die Tannen. Kein Bäumchen lässt er aus, schließlich sollen sie alle von diesen hässlichen Flecken befreit werden, die unsichtbare Schädlinge angerichtet haben. Danach darf ich tagelang nicht in die Nähe der Tannen, aber in die Gefahr komme ich ohnehin nicht, denn für den gesamten Rasen rund ums Haus gilt: Betreten verboten! Damit ich nur ja nicht mit den blauen und roten Körnchen in Berührung komme, mit denen das Gras gedüngt ist. Man weiß ja nie.


Ja, so ein Einfamilienhaus war ständig von Getier bedroht, und das nicht nur im Garten. Im Inneren sorgte Muttern mit preußischer Hemdsärmligkeit und Chemie für frische Verhältnisse. Auf dem Klo roch es nach Fichtennadeln, im Wohnzimmer nach Raumspray, und in der Küche ging es den Fliegen mit Gezisch an den Kragen. Einmal am Tag wurde Pucki, unser Wellensittich, samt Käfig in den Flur getragen, und die Fliegen lagen bald darauf mit zappelnden Beinen auf dem Küchenboden. Dann noch kurz gelüftet und mit „Zewa wisch und weg“ über Tisch und Arbeitsfläche. Man weiß ja nie.

Doch groß war die Empörung, wenn Muschi, unsere Katze (die hieß so!), hysterisch niesend und mit verklebten Augen von der Mäusejagd heimkehrte. „Diese Bauern!“, schimpfte dann die Mutter, und in der Tat konnte man vom Küchenfenster aus den Landmann auf dem Traktor beobachten, wie er mit angehängtem Fass das Kornfeld neben unserem Haus in Sprühnebel hüllte. Denn wer mag schon Klatschmohn im Brot?

Und dann gab es da noch diese Ameisen, die in der Einfahrt die Fugen zwischen den Waschbetonplatten zersetzten. Doch diese Tierchen bekamen es nicht mit der Chemie zu tun, für sie gab's nur ein Bad im siedenden Wasser. Damit hatte Mutter den Beweis erbracht, dass in den Abgründen der deutschen Gründlichkeit so ziemlich alles gedeiht, sogar das zarte Pflänzchen der ökologischen Schädlingsbekämpfung.

dietmar.krug@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.01.2012)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.