Verabschiedet euch vom "Modell Deutschland"!

Verabschiedet euch Modell Deutschland
Verabschiedet euch Modell Deutschland(c) EPA (Wolfgang Kumm)
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Großbritannien als böser EU-Bremser, Deutschland als Retter der Union: Dieses selbstgefällige Bild ist nicht nur falsch, sondern auch gefährlich. Deutschland ist genauso neoliberal wie der Inselstaat und bedroht mit dieser Haltung das europäische Projekt. Ein Blick von außen.

Großbritanniens EU-Kurs hat viele auf dem Kontinent verschreckt: Das britische Veto gegen die Änderung des Lissabon-Vertrags zur Bekämpfung der Eurokrise hat das Ansehen des Landes in vielen Teilen Europas beschädigt, nicht zuletzt in Deutschland.

David Camerons Argument, dass eine Vertragsänderung die britischen Finanzinteressen beeinträchtigt hätte, wurde weithin als rücksichtslose Verteidigung der Krisenverursacher angesehen (...) Auch wurde den Briten vorgeworfen, sich einer „fairen“ Beteiligung an den Kosten der Krisenbewältigung entziehen zu wollen. Der Konflikt ist damit noch nicht beendet: Derzeit blockiert das Vereinigte Königreich die Einführung einer Finanztransaktionssteuer.

Es ist zweifellos begründet, die britische Position als schädlich für die wirtschaftliche Stabilität Europas zu kritisieren. Umgekehrt ist es aber auch nicht besser: Deutschland stellt sich oft als verantwortungsvoller Förderer und Bewahrer der Union dar. Ein Selbstbild, das auf einer wackligen Basis steht. Mehr noch, die zugrunde liegende Gegenüberstellung unterschiedlicher Kapitalismusmodelle – das britische durch und durch neoliberal und latent anti-europäisch, das deutsche „menschlicher“ und vernünftig pro-europäisch – verzerrt die Tatsachen. Tatsächlich haben die Wirtschaftsmodelle beider Länder weitreichende Prozesse der „Neoliberalisierung“ durchlaufen. So vertreten nun auch beide unhaltbare Positionen in der Krise der europäischen Integration.

Aber wie ist das möglich? Zunächst heißt „Neoliberalisierung“, die politischen Ökonomien in Einklang mit dem Mythos des Marktes umzugestalten. Der Begriff steht damit im Gegensatz zur statischen Vorstellung von unterschiedlichen kapitalistischen „Modellen“. Vielmehr betont er die gemeinsame Richtung regulatorischen Wandels in Europa und darüber hinaus. Großbritannien mit und nach Margaret Thatcher ist natürlich ein Musterbeispiel: Massenprivatisierungen, Deregulierung, Angriffe auf die Gewerkschaften und Wohlfahrtseinschnitte. Die derzeitige Koalitionsregierung setzt diese Politik mit ihrer scharfen Austeritätspolitik und ihrer beinahe unterwürfigen Haltung gegenüber der kleinen, aber extrem mächtigen Finanzelite konsequent fort.

Deutschland hat sich seit der Wahl Helmut Kohls zum Kanzler 1982 und insbesondere seit der Wiedervereinigung unverkennbar in die gleiche Richtung entwickelt, wenn auch gradueller. Darüber kann auch die Rede vom Wiedererstarken des traditionellen „Modells Deutschland“ nicht hinwegtäuschen. Als prägend für dieses „Modell“ galten etwa die betriebliche Mitbestimmung und das System sektoraler Flächentarifverträge. Diese Institutionen sind heute nicht verschwunden. Aber ihr grundlegender sozialer Gehalt hat sich drastisch verändert: Bedroht mit Kapitalflucht in Niedriglohnländer unterwerfen sie sich zunehmend dem Gebot „internationaler Wettbewerbsfähigkeit“.

Um die Interessen ihrer Stammbelegschaften zu schützen, sind etwa Betriebsräte immer öfter gezwungen, direkt am Standortwettbewerb teilzunehmen. Das zeigt sich in der regelmäßig aufflammenden Konkurrenz zwischen den Arbeitnehmervertretungen multinationaler Konzerne. In der jüngeren Vergangenheit gab es zum Beispiel bei Opel heftige Konflikte um Werksschließungen oder die Ansiedlung neuer Produktionslinien. So hat sich die Neoliberalisierung oft durch und nicht gegen nicht-marktförmige Institutionen vollzogen.

Der Eindruck verstärkt sich noch, wenn wir zudem die staatliche Sozial- und Arbeitsmarktpolitik betrachten. Die Hartz-Reformen haben die prekäre und niedrig entlohnte Beschäftigung deutlich ausgeweitet. Sie haben die Erosion der relativen sozialen Gleichheit beschleunigt, die die historische Grundlage des deutschen wirtschaftlichen Erfolgs bildete. Die Realeinkommen aus abhängiger Beschäftigung sind seit 1993 um mehr als drei Prozent gefallen – und damit weit hinter dem fortdauernden Produktivitätsanstieg zurückgeblieben. Der Anteil der Beschäftigten am Nationaleinkommen ist somit im gleichen Zeitraum um mehr als zehn Prozent gesunken. Währenddessen haben Kapitaleinkommen entsprechend zugelegt.

Die Begründung lautet immer wieder: Deutschland müsse „Exportweltmeister“ bleiben. Nur so könne langfristig Prosperität garantiert werden. Folgerichtig hat sich die traditionell hohe deutsche Exportabhängigkeit in den vergangenen 15 Jahren weiter erhöht.

Das Gesamtresultat dieser Prozesse ist kein durch und durch neoliberaler Kapitalismus wie in Großbritannien (...) Deutschland hat heute ein hybrides Modell. Es kombiniert Institutionen, die im Sinne der Neoliberalen ausgehöhlt oder in ihrer Funktionsweise transformiert wurden, mit ein paar verbleibenden Überresten des Alten.

Die Veränderungen im „Modell Deutschland“ wirken sich auch auf die Rolle des Landes bei der europäischen Integration und der Bearbeitung ihrer derzeitigen Krise aus. Neu ist, wie kompromisslos die Bundesregierung deutsche Interessen durchsetzt. Ein Beispiel dafür ist der überaus restriktive Fiskalpakt, der den schwächeren Euro-Ländern einen harten Sparkurs aufzwingt. Teilweise lässt sich das mit der traditionellen deutschen Besessenheit bezüglich der Währungsstabilität erklären. Aber der Eifer und die fast absolute Inflexibilität sind jüngeren Datums und spiegeln die Dominanz neoliberaler Ideologie und die wachsende Weltmarktorientierung der deutschen Exportindustrie wider.

Die Maßnahmen der Merkel-Regierung und ihrer „Troika“-Verbündeten werden die Krise vertiefen, nicht lösen. Denn sie vergrößern die Ungleichgewichte zwischen Zentrum und Peripherie der Union. Schon zuvor waren diese Asymmetrien groß und zunehmend: Zur Einführung des Euro verfügte Deutschland über eine ausgeglichene Handelsbilanz; bis 2007, also noch vor Ausbruch der Krise, wuchs der Überschuss aber bis auf 7,7 Prozent des Nationaleinkommens an. Hier zeigt sich klar, wie der deutsche Exportsektor von der relativen Schwäche der Gemeinschaftswährung gegenüber der alten D-Mark profitiert.

Mit der derzeitigen Krisenbearbeitungsstrategie will die Regierung diese Wettbewerbsvorteile noch ausbauen und langfristig konsolidieren. An der Oberfläche scheint dies freilich Deutschlands Interessen zu entsprechen. Es ist aber das bloße Gegenteil dessen, was geschehen sollte. Denn es wird die wirtschaftlichen und sozialen Strukturen der europäischen Peripherie langfristig beschädigen. Im Interesse Europas müssten deutsche Exporte weniger wettbewerbsstark werden. Durch stärkere Einkommenszuwächse müsste der Handelsbilanzüberschuss verringert werden. Umgekehrt könnten höhere Löhne in Deutschland das Wachstum in der gesamten Eurozone fördern.

Stattdessen droht der Währungsraum ohne einen deutschen Kurswechsel zu zerbrechen. Die Forderungen des Sparkurses sind kaum erfüllbar, ohne dass dies verheerende Folgen für die Länder am unteren Ende der Befehlskette nach sich zieht. Das kann man zurzeit in Griechenland beobachten: Die Wirtschaftsentwicklung wird abgewürgt, die soziale Notlage verschärft. Statt Kapital in notwendige soziale Investitionen zu stecken, werden drastische Rückzahlungsansprüche bedient. Doch das zieht nur weitere Austerität nach sich. Denn durch die folgende Depression wächst das Gewicht der Schulden nur noch stärker. So beobachten wir derzeit das europäische Äquivalent zu den Strukturanpassungsprogrammen, die in den 1980er- und 90er-Jahren – mit ebenso negativen sozialen Effekten – zahlreichen afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern aufgezwungen wurden.

Selbst wenn die pro-europäische Haltung des kleineren, liberaldemokratischen Koalitionspartners die britische Regierung dazu veranlassen sollte, konstruktiver an der Krisenbekämpfung unter deutscher Führung mitzuarbeiten, würde die Krise also nicht verschwinden. Ganz im Gegenteil – ein grundlegend anderer Ansatz ist notwendig.

So sollte unter anderem eine wirksame Finanztransaktionssteuer eingeführt werden, mit oder ohne britische Zustimmung. Darüber hinaus muss aber die europäische Finanz- und Währungsarchitektur grundlegend neu gestaltet werden. Der Aufruf „Europa neu begründen“ von führenden deutschen Gewerkschaftern und Wissenschaftlern macht einige gute Vorschläge: Die gemeinsame Währungspolitik muss auf ein breiteres Set von Zielen ausgerichtet werden. Sie sollte nicht nur Stabilität, sondern auch Wachstum und Beschäftigung umfassen. Transfermechanismen wie der Länderfinanzausgleich müssen auf europäischer Ebene eingeführt werden, um den wachsenden Ungleichgewichten entgegenzuwirken. Schließlich müssen die sozialen und ökonomischen Grundlagen der Integration selbst transformiert werden.

Das Ziel muss eine Umkehr der Neoliberalisierungsprozesse des „Modells Deutschland“ sein. Dafür muss sich Deutschland als erstes von seiner Besessenheit verabschieden, immer „Exportweltmeister“ sein zu wollen. Nur so kann eine tragfähige Basis für ein reformiertes europäisches Projekt geschaffen werden.

Der Text erschien in „Cicero“.

Ian Bruff ist Politikwissenschaftler an der Loughborough University, GB;

Matthias Ebenau ist Politikwissenschaftler am Queen Mary College der University of London.

Beide haben zahlreiche Veröffentlichungen in den Bereichen Internationaler und Vergleichender Politischer Ökonomie, Europäischer Integration und zur gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise vorgelegt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.05.2012)

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