Interview

"Was machen wir da auf den Intensivstationen eigentlich?"

Symbolbild: Intensivstation
Symbolbild: IntensivstationAPA/HELMUT FOHRINGER
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Andreas Sönnichsen, der Leiter der Abteilung für Allgemein- und Familienmedizin an der Meduni Wien, will darüber diskutieren, was man durch die Behandlung von Corona-infizierten alten Menschen auf der Intensivstation eigentlich erreicht.

Die Presse: Die Covid-19-Pandemie führt dazu, dass sehr viele präventivmedizinische Maßnahmen wie Vorsorgeuntersuchungen, Mammographien, Koloskopien, aber auch viele Kontrolluntersuchungen nicht stattfinden. Das heißt, auch viele Diagnosen werden nicht gestellt. Welche Auswirkungen wird dieser Umstand auf die heimische Volksgesundheit haben?

Andreas Sönnichsen:
Man muss den Public Health-Ansatz vom individuellen trennen. Der Einzelne erlebt, dass nun Arztpraxen geschlossen sind, teils, weil die Ärzte selber Angst haben oder auch keine Patienten mehr kommen. In Österreich – wie in Deutschland auch – haben wir die höchste Arzt-Frequentierraten der Welt. Die Leute gingen sehr häufig zum Arzt, nun aber sind die Besuche drastisch zurückgegangen, weil sie Angst haben, sich dort anzustecken. Das wirft die Frage auf: Ist es wirklich notwendig, dass man wegen jedem Wehwehchen zum Doktor rennt? In Schweden tun das die Menschen auch nicht – und sie sind nicht kränker. Durch unser Gesundheitssystem haben wir unsere Bevölkerung dazu erzogen, Eigenverantwortung an der Garderobe abzugeben. Wir haben die Fähigkeit verloren, einzuschätzen, was krankhaft ist und was normal. Zu mir kam tatsächlich einmal eine Mutter mit ihrem sechsjährigen Kind in die Praxis, weil der Milchzahn gewackelt hat. Das ist völlig irrsinnig und für den Patienten nachteilig. Er verliert nicht nur Zeit, sondern er setzt sich – nicht nur zu Corona-Zeiten – Infektionen aus. Die Allgemeinmedizin prangert seit Jahren an, dass Patienten wegen banalen Erkältungen oder mit Grippe zum Arzt gehen müssen, nur um krankgeschrieben zu werden. Medizinisch ist das höchst schädlich. Das heißt: Vielleicht hat Corona einen positiven Effekt, weil wir lernen, dass es sogar gescheiter sein kann, nicht zum Arzt zu gehen.

Sie meinen, es hat gar keine gesundheitsökonomischen Auswirkungen, dass Vorsorgeuntersuchungen nun nicht stattfinden?

Die nachweisbaren Effekte etwa der Gesundenuntersuchung oder der Mammographien sind sehr bescheiden. Sie müssen 1000 Frauen zehn Jahre lang mammographieren, um eine Brustkrebstote zu verhindern. Bei Koloskopien ist das nicht anders. Dass aufgrund von Corona diese Untersuchungen seit drei, vier Wochen nicht stattfinden, wird sich in Zahlen nicht niederschlagen, selbst wenn das noch einige Wochen so bleibt. Deshalb ist keine zusätzliche Panik angebracht.

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