"Unser Verbrechen der Gleichgültigkeit"

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Interview. Philosoph André Glucksmann über Tschetschenien und Ruanda, Waldheim und Wut als Lebensimpuls.

Sohn emigrierter jüdisch-österreichischer Kommunisten und Résistance-Kämpfer, seit Jahrzehnten einer der wichtigsten französischen Intellektuellen: Vergangene Woche wurde Philosoph André Glucksmann 70 Jahre alt – und war in Wien. „Die Presse“ wollte mit ihm über seine Autobiografie „Wut eines Kindes, Zorn eines Lebens“ sprechen. Doch für Glucksmann gibt es Wichtigeres: Gespräch mit einem glaubwürdigen Denker.

Die Presse: Herr Glucksmann, Sie sind ein handelnder Philosoph, der Hellsichtigkeit mit tiefem Engagement verbindet. Gemeinsam findet man diese Qualitäten selten ...

Andre Glucksmann: Aber es gibt diese Leute. Anna Politkowskaja gehörte dazu, sie verband Engagement und Luzidität. Sie dachte gar nicht manichäisch, weder glaubte sie, dass alle Tschetschenen gut noch dass alle russischen Soldaten Verbrecher seien.

Kannten Sie sie gut?

Glucksmann: Ja. Jedes Mal, wenn sie in Paris war, kam sie zu mir. Sie hatte ein spezielles Lächeln, wenn sie sagte „Auf Wiedersehen – vielleicht“. Sie hatte ein Angebot für ein „sabbatical year“ an einer US-Uni, ich sagte, nimm es an. Aber sie antwortete: Das würde ich gern, ich will auch nicht sterben, ich habe Kinder, werde bald Großmutter. Aber wenn ich gehe, nehmen andere junge Journalisten den Platz in meiner Zeitung ein, die weniger geschickt und erfahren sind. Sie werden viel mehr riskieren – zu sterben und Fehler zu machen.

Erinnert Sie das an Ihre Mutter, die aus dem sicheren Palästina nach Deutschland ging, um gegen Hitler zu kämpfen?

Glucksmann: Ja, und Anna Politkowskaja verkörpert für mich auch etwas, was es in der russischen Kultur immer gab, den Kampf für die Freiheit gegen Autokratie. Tolstois letzte Erzählung, „Hadschi Murad“, ist eine Erinnerung an seine Jugend, als er im Kaukasus kämpfte. Er vergleicht den Tschetschenen-Anführer, der kein Engel ist, und den Zar – sehr zu Gunsten des Tschetschenen-Chefs. Der Text sagt uns: Das ist nichts Neues, es sind nicht die Islamisten, das Elend dauert nun 300 Jahre! Es ist ein Kolonialkrieg, der fast zwei Mal in der quasi totalen Ausrottung endete. Tolstoi vergleicht die Tschetschenen mit einer Distelart, die sich gleich wieder aufrichtet, nachdem Wagen drübergefahren sind. Diese unverständliche tschetschenische Freiheitsliebe hat russische Autoren immer fasziniert.

Und was hat Sie dazu gebracht, die Tschetschenen-Causa zu der Ihren zu machen?

Glucksmann: Das erste Mal in Moskau war ich unter Gorbatschow, Dissidenten-Freunde sagten mir: Es ist nicht vorbei. Eine rot-braune Allianz, zwischen dem autoritären, repressiven Apparat und ultranationalistischen, rassistischen Kräften, ist gut möglich. Daran dachte ich, als der Jugoslawien-Krieg ausbrach. Sobald dann der Tschetschenien-Krieg anfing, dachte ich: Moskau riskiert dieselbe Barbarei. Ich bekam kein Visum, also ging ich im Jahr 2000 allein hin, unter Stacheldrähten durch ...

Was haben Sie gesehen?

Glucksmann: Man musste nicht hinfahren, um zu verstehen, dass die erste von einer europäischen Armee barbarisch ausradierte Hauptstadt seit 1944 Grosny war. Das Neue für mich war die russische Armee. Ihr fehlte jede ideologische Begeisterung, ich durfte gegen Dollars in den Autos der Geheimpolizei mitfahren, um die Checkpoints zu passieren. Die Korruption reichte von den Generälen, die das europäische Geld für den tschetschenischen Wiederaufbau einsteckten, bis zu den Soldaten, die Menschen kidnappten und sie den Familien verkauften: Zahlt ihr schnell und viel, bekommt ihr sie gesund, braucht ihr länger, verwundet. Zahlt ihr gar nicht, könnt ihr den Kadaver kaufen. Man sagte mir, der Goldpreis sei so gestiegen, weil die Soldaten Schmuck als Souvenir kauften, mit dem Geld vom Kidnapping.

Putin wurde in Wien freundlich aufgenommen. Sehen Sie Parallelen zur anfänglichen Duldsamkeit des Westens gegenüber Hitler?

Glucksmann:Ja, auch wenn Putin nicht Hitler ist. Als man Hermann Broch fragte, ob er alle Österreicher für Nazis halte, sagte er: Nein. Aber es gibt eine schlimmere Sünde: das Verbrechen der Gleichgültigkeit. Heute sind wir mittendrin. Der letzte Genozid des 20. Jahrhunderts war in Ruanda, in drei Monaten massakrierten die Hutu rund eine Million Tutsi, macht 10.000 pro Tag. Diesen Geschwindigkeitsrekord erreichten nicht einmal die Nazis. Ein kanadischer UNO-General flehte zu Kofi Annan: Schicken Sie 5000 gut bewaffnete Blauhelme, und ich stoppe den Genozid. Nichts geschah. Noch ein Beispiel, Hutu und Tutsi sind sehr religiös, katholisch: Hat die Kirche, die viel über die Shoah nachdenkt, über das Unsägliche nachgedacht, dass zum ersten Mal ein Genozid von Katholiken an Katholiken verübt wurde? Der Grad der Reflexion liegt bei null.

Was bedeutet das für die Wirksamkeit europäischer „Vergangenheitsbewältigung“?

Glucksmann: Werden die Lehren nicht aktualisiert, ist das auch eine Art einzuschlafen. Die heilige Union aller Menschen, die sich über Gräber neigen, ist eine gute Sache. Aber es ist unzureichend,die Shoah zu zelebrieren und nicht eineMinute an die gemordeten Tutsi zu denken! Ich habe dafür gearbeitet, dass jüdische Studenten nach Ruanda gehen. Die Tutsi waren so glücklich, Juden zu begegnen, die Juden sind für sie ein Mythos, er bedeutet, sie sind nicht die Einzigen, die solches erlitten haben. Die Tutsi fühlten sich jüdisch. Die Juden fühlten sich nicht als Tutsi. Zehn Jahre dauerte es, bis Yad Vashem (die Holocaust-Gedenkstätte in Israel, Anm.) anerkannte, dass, vielleicht, die Tutsi Ähnliches erlebt haben. Man sagt immer, hätten wir gewusst, wäre es nicht passiert. Hier wusste man. Und es ist passiert.

Sie haben im französischen Wahlkampf den rechten Kandidaten Sarkozy unterstützt, nun gelten Sie vielen Linken als Verräter ...

Glucksmann: Ich gehe nicht in die Politik wie in eine Religion, auch links oder rechts sein ist keine Religion. Politik heißt, zum richtigen Zeitpunkt notwendige Entscheidungen zu treffen. Ich war für Sarkozy, weil er mit der kurzsichtigen französischen Realpolitik brechen will, die dazu geführt hat, die Menschenrechte in der Welt zu vernachlässigen. Und mit dem französischen Sozialmodell, das seit 30 Jahren die armen oder maghrebinisch-stämmigen Franzosen in Banlieues abschiebt. Die Jungen haben ihre Väter, ihre Großväter ohne Arbeit gesehen, haben keine Chance auf ein ordentliches Leben. Ich argumentiere als Linker, aus linken Gründen bin ich für Sarkozy.

Ihr Vater starb auf einer Fähre von Dover nach Calais durch einen Torpedoangriff, Ihre Mutter Martha ging 1947, als Sie zehn Jahre alt waren, nach Österreich zurück. Sie selbst blieben in Frankreich, verbrachten Ferien in Wien. In Ihrer Autobiografie schreiben Sie von Reisegesellschaften in Pullmanbussen mit „Rentnerinnen in Kleinmädchen-Dirndln“, die Sie sofort als Juden identifiziert hätten. „Selbst als ich nach Wien kam, um Martha zu beerdigen (1974, Anm.), folgte mir das schallende ,Jude!‘ auf Schritt und Tritt. Sobald ich die Grenze überschritten hatte, ertönte es an Tankstellen und Autobahnraststätten.“ Übertreiben Sie da nicht? Wenn nein: Verspürten Sie jemals Hass auf Österreich?

Glucksmann: Es ist wirklich so passiert, das war die Zeit, als Studenten als Teufel gesehen wurden, alles, was lange Haare trug, suspekt war. Ja, es wurde gesagt: „Jude.“ Aber das hat mich nicht geprägt. Wenn Hass da war, war er nicht tief. Davor hat mich meine Mutter bewahrt.

Eine Schlüsselepisode im Buch ist der Wutausbruch des kleinen André in einem von den Rothschilds gegründeten Heim für gerettete Kinder. Baron, Baronin und Familie sind zu Besuch, die Idylle wird durch den Buben gestört, der schreit und seinen linken Schuh nach den Wohltätern wirft. Ihr weiteres Leben sehen Sie als eine Folge von „zivilisierten Schuhepisoden“. Zorn als Lebensimpuls, kann das nicht auch den Blick vernebeln? Was sagen Sie etwa im Rückblick zur Waldheim-Kampagne, die heute von vielen einstigen Kritikern als ungerecht gesehen wird?

Glucksmann: Waldheim war UNO-Generalsekretär, er hatte besondere Verantwortung. Sein Schweigen war ein unverzeihlicher Fehler, weil er ausschließlich von Waldheim abhing. Respekt vor der Wahrheit, auch über sich selbst, verlangt man schon von Kindern, wenn sie ihre Finger in die Marmelade stecken. Ich habe das auch Mitterrand, der von Pétain einen Orden erhielt, immer vorgeworfen. Aber es stimmt, der Schuh konnte zu allem führen – ich erinnere mich an Chruschtschow, der 1968 mit seinem Schuh vor der UNO aufs Pult haute ... Mich hat die Philosophie gerettet: Das „Erkenne dich“, was nicht heißt „Bewundere dich“, sondern: Kenne deine Möglichkeiten, dich zu irren, deine Endlichkeit, das Zerstörerische in dir, erkenne, dass du nicht Gott bist. Das ist für mich der Grund der europäischen Kultur.

Ihre Eltern lernten sich in Palästina über ein Heft von Karl Kraus' „Fackel“ kennen. Was bedeutet Ihnen heute die österreichische Kultur?

Nach dem Krieg gibt es eine so verzweifelte Seite der österreichischen Literatur, dass ich auch an ihr verzweifle. Die große Periode ist für mich die Zwischenkriegszeit – Musil, Roth, Karl Kraus. Durch Kraus verstand ich, dass das Ende der Menschheit immer möglich, uns der Friede nicht garantiert ist, dass es keine Vorsehung, weder marxistisch noch sonst was, gibt, die unsere Probleme regelt. Und dass diese uns vernichten, wenn wir nicht selbst Hand anlegen.

ZUR PERSON: Glucksmann

1937, kurz vor seiner Geburt, flüchten die Eltern aus Deutschland nach Frankreich, der Vater wird getötet, der Deportation entkommt die Familie durch tollkühne Intervention der Mutter. Sie geht 1947 nach Österreich, der Sohn weigert sich mitzukommen.

Berühmt wird der Philosoph in den 70ern durch seine Kommunismuskritik („Köchin und Menschenfresser“). Weitere Werke: „Die Meisterdenker“ (1978), „Die Macht der Dummheit“ (1985), „Hass“ (2005), „Wut eines Kindes, Zorn eines Lebens“ (Autobiografie, 2007). Mit Bernard-Henri Lévy und Alain Finkielkraut wird Glucksmann zu den „Neuen Philosophen“ gezählt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.06.2007)

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