Was wird aus Overlord?

Tanja Dückers legt den uner- warteten Tod eines geliebten Ehemanns, Vaters, Großvaters, Schwiegervaters und Schwa- gers auf den "längsten Tag des Jahres" _ und schaut, was mit den Angehörigen passiert. Ein Abgesang auf das Patriarchat.

Wenn in der Literatur ein Thema häufig auftritt, so ist das zumeist Zeichen eines Verlustes. Da in den vergangenen Buchsaisonen auffallend viele Familienromane erschienen sind, liegt die Frage nahe, was uns da abhanden gekommen ist? Gern ist es in diesen Romanen (von Eva Menasse über Arno Geiger, Bernhard Schlink bis zu Thomas Lang) das bevorstehende oder stattgehabte Ableben des Paterfamilias, welches zu Irritationen unter den Familienmitgliedern führt.

Tanja Dückers legt nun den unerwarteten Tod des geliebten Ehemanns, Vaters, Großvaters, Schwiegervaters und Schwagers Paul Kadereit auf den "längsten Tag des Jahres". An diesem Tag kann es nicht nur in der Wüste, sondern auch in Fürstenfeldbruck sehr heiß sein. Und der Wüstentierspezialist und ehemalige Besitzer der "Großen Zootierhandlung" sowie der Firma "Honeylife" hatte es schon länger auf dem Herzen, als er an jenem 21. Juni 2003 im überhitzten Bienenhaus zusammenbrach. Was folgt, ist eine psychologisch ausgetüftelte "Familienaufstellung" in fünf Kapiteln: Sylvia, David, Johanna, Benjamin und Thomas, so die Namen der Kinder. Ihre Reaktionen auf den Tod des Vaters geben der auktorialen Erzählerin Tanja Dückers die Gelegenheit, die unterschiedlichen Charaktere sowie deren Verhältnis zueinander vorzustellen. Mit dem Kunstgriff, die Kinder sich an ihre jeweilige Geschichte mit dem Vater erinnern zu lassen, webt die Autorin gekonnt die Familiengeschichte hinein. Und die geht so.

Paul Kadereits Vater kam als Nordafrika-Kämpfer im Zweiten Weltkrieg um. Von ihm blieben nur ein Foto in der Wüste und der "Rommel-Mythos" erhalten. Vielleicht interessiert sich Paul deshalb für die vom Krieg unbeschädigt gebliebene Chamäleon- und Wüstenechsensammlung sowie die Bienenstöcke des Nachbarn, die der junge Mann nach dessen Tod übernimmt. Sie bilden den Grundstock für die Tierhandlung und die Imkerei, die in den "golden seventies" so gut laufen, dass Paul Kadereit zeitweilig über zehn Angestellte beschäftigen kann. Um die Jahrtausendwende kommt es zur großen Talfahrt, die im Sommer 2002 mit der Insolvenz endet. Das Lebenswerk ist ruiniert. Was von der exotischen Firma übrig bleibt, ist einzig "Overlord", der Wüstenwaran, ein Prunkstück, längst zum Haustier geworden und absolut unverkäuflich.

Was geschieht jetzt mit Overlord, fragt sich deshalb die älteste Tochter Sylvia nach dem Anruf der Mutter mit der Todesnachricht. Sylvia hätte das Unternehmen weiterführen können. Sie hat es schon während einer Erkrankung des Vaters geführt. Die ge-lernte Fremdsprachensekretärin, Ehefrau ei- nes Immobilienhändlers und Mutter zweier fast erwachsener Töchter, war stets bemüht, den Vater vor aller Unbill des modernen Lebens sowie vor unangenehmen Fragen ihrer Geschwister zu schützen. Die fanden sie deshalb immer etwas spießig.

Besonders Anna und David. Die beiden hätten gern mehr über ihre Herkunft erfahren, doch Sylvia hat immer abgeblockt, um "Vater nicht zu sehr zu belasten". Anna, die einen Teil ihrer Ausbildungszeit in den USA verbracht hat, ist sich mit mit ihrem Bruder David darin einig, dass Daddys "German Weltflucht" schädlich ist. Sie führt mit ihrem Mann Michael eine psychoanalytische Praxis, hat zwei Kinder und ist stark an "Aufarbeitung" interessiert, um auf politisch und moralisch neuer Basis ein traditionelles Familienleben führen zu können. Das wiederum unterscheidet sie von David, der Schauspieler geworden ist und sowohl finanziell als auch sexuell in ungesicherten Verhältnissen lebt. David konnte mit dem streng reglementierten Leben seiner Eltern nie etwas anfangen. Es war ihm nie gelungen, "einmal neben seinem Vater zu sitzen und ein ,Wir-Gefühl' zu empfinden".

Distanz zu seinem Vater hat auch Bennie, aber auch Respekt. Respekt wie vor Chamäleons, die - wie Vater stets betonte - "unter den härtesten Bedingungen überleben können", weil sie ihre Umgebung kaum verlassen und perfekt angepasst sind. Bennie wiederum versteht es, sich jeder Umgebung anzupassen, einmal verkauft er Luftballons, dann arbeitet er als Journalist, zuletzt gründet er mit seiner Freundin eine Galerie. Er ist der Lebenskünstler der Familie, stets freundlich, allem gegenüber aufgeschlossen.

Fehlt noch Thomas, der Nachzügler, das Lieblingskind des Vaters und der Begabteste von allen. Er kommt dem Vater am nächsten - und flieht vor der emotionalen Wüste in die kalifornische Mojave-Wüste. Als er mit 20 Chantal kennen lernt, geht er mit ihr zuerst auf Weltreise, macht in Albuquerque den Bachelor in Verfahrenstechnik und wird wohlbestallter Leiter eines Kanalisationsprojekts in der Wüste. Für kurze Zeit lebt er - mit Frau und Kind - die bürgerliche Existenz seines Vaters. Doch Chantal ist anders als seine Mutter. Die duldende und dienende Rolle ist ihre Sache nicht. Sie begibt sich auf "Selbsterfahrungstrip" und schließt sich der Sekte der "sun people" an. Aus Liebe geht er mit, verkauft das Haus mit Pool, gibt das Geld dem Guru und zieht in einen Wohnwagen in der Wüste. Da Chantal sich in einen Sektenführer verliebt, lebt er bald allein mit seinem "Wüstensohn" Sami. Das Fenster des Wohnwagens gibt den Blick frei auf verrostete Flugzeuge, skelettierte Kojoten und eine dunkle Schar von Sukkulenten.

"Erst kommt der Müll und dann das Nichts und dann noch einmal das Nichts und dann die Schönheit." Das ist der Schlüsselsatz in Tanja Dückers Abgesang auf das Patriarchat. Für die 1968 in Westberlin geborene Autorin funktioniert das bürgerliche Modell des Regionalverbands mit einem Minikaiser an der Spitze nicht mehr. Das ist nur noch "wasted land". Und Thomas ist derjenige, der in dieser verwüsteten Familienlandschaft neue Formen ausprobiert, "weil er spürte, dass er die Melancholie, die er von zu Hause mitbekommen hatte, nicht durch Ablenkung, sondern nur in der direkten Begegnung überwinden können würde". Die direkte Begegnung sucht Thomas, indem er das ehemalige Atomversuchsgelände erst einmal kartografiert. Dabei bemerkt er, dass devastierte Landstriche eine eigene Schönheit entwickeln können.

Dückers hat einen Abgesang auf das Patriarchat geschrieben, keine Abrechnung. Alle Figuren, inklusive des Patriarchen, sind mit Feingefühl und einer großen Liebe zu den Menschen gezeichnet, ohne deren Schwächen zu verkennen. Dückers Roman ist nicht spekulativ und nicht spektakulär, dafür umso eindringlicher. Es ist eine Literatur, die beschreibt, analysiert, aber nicht urteilt, und schon gar nicht verurteilt.

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