Warum Medizin-Aufnahmetests der Genderdiskussion nützen

Der umstrittene, gendergerecht ausgewertete EMS-Test legt die grundsätzlichen Probleme der Geschlechterfrage offen.

In diesem Jahr haben sich mehr Frauen als Männer zum Medizin-Aufnahmetest angemeldet. Die Kandidaten lieferten bessere Ergebnisse als die Kandidatinnen. Dennoch gingen mehr als die Hälfte der Studienplätze an die Frauen, nämlich 56 Prozent. Wie das?

Die Wiener Med-Uni zeigt sich weitblickend, zeitgeistig und geschlechtergerecht – und ließ den Aufnahmetest (EMS) für Human- und Zahnmedizin heuer genderspezifisch auswerten. Dabei wurden auf die Besten aus der Frauengruppe und auf die Besten aus der Männergruppe die vorhandenen Studienplätze aliquot der Anmeldezahlen aufgeteilt. (Im Vorjahr wurden aus der Gesamtheit der männlichen und weiblichen KandidatInnen die Besten gezogen)

Das rief nun die männlichen Bewerber auf den Plan. Sie fühlen sich ungerecht behandelt. Zu Recht? Immerhin gibt es auch Studien, die zeigen, dass die Kompetenzen in mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern bei Burschen/Männern besser seien als bei Mädchen/Frauen.

Nachteile in der Testgestaltung

Es gibt allerdings auch Studien, die zeigen, dass die Ergebnisse der Letzteren hauptsächlich durch unterschiedliches, meist geringeres Selbstvertrauen der Frauen in diesen Fächern und durch unterschiedliche (diskriminierende) Zuweisungen dieser durch das Umfeld zustande kommen können.

Und am Test selbst kann es nicht liegen. Denn Computertests, wie sie beim Medizin-Aufnahmetest eingesetzt werden, seien an sich objektiv. Für alle Testpersonen die gleichen Bedingungen. Und die Maschine sei unbestechlich.

Ein weiterer Grund für die Benachteiligung von Frauen bei technik- bzw. naturwissenschaftlich-lastigen Testverfahren könnte in der Testkonstruktion selbst liegen. Nicht so beim Med-Aufnahmetest: Bei der Testentwicklung des EMS wird mit Genderkompetenz vorgegangen. Genderprobleme werden mitbedacht und die Tests fortlaufend auf Genderimpacts hin überprüft. Gender als kritische Kategorie unter Bedachtnahme von Unterschieden innerhalb der Genusgruppen. Die Arbeitswelt scheint da noch nicht ganz so weit zu sein!

Geschlechtsspezifische Benachteiligung – eine schwierige Diskussion auf mehreren Ebenen, und sie ist höchst notwendig.

Denn die Benachteiligung der weiblichen Kandidatinnen beginnt weit früher: Selbst unter den funkelnden Sternen der Aufklärung im 18. Jahrhundert galten Frauen als minderwertiges Abbild des Mannes, waren keine eigenständigen Wesen. Das Denken/die Vernunft war männlich, die Frau galt bestenfalls als „Ergänzung zum Mann“.

Unterschiedliche Bildungswege

Daraus folgten unterschiedliche Bildungswege für Buben und Mädchen, die noch heute geltende kognitive Geschlechterdualität bildet sich heraus. Bildung und Wissen waren für Frauen nur in jenen Dosierungen vorgesehen, mit denen sie dem Mann das Leben verschönern konnten. Naturwissenschaft und Technik waren dafür nicht nötig.

Mädchen/Frauen sollten zur Geliebten/Gattin/Mutter erzogen werden. (Wie oft hört man das heute noch oder wieder!) Höhere Bildung und geistige Betätigung waren für Frauen einfach nicht vorgesehen. Es sollte schließlich bis weit ins 20. Jahrhundert dauern, bis sich einerseits der Bildungsbereich selbst für Frauen gänzlich öffnete. Die Medizin war damals schon Vorreiterin: Die Medizinische Fakultät öffnete ihre Türen für Frauen erstmals im Jahre 1900.

Unterschiedlich sozialisiert

Andererseits erfuhr die Rolle der Frau endlich andere Interpretationen und Zuordnungen. Dennoch: Sogar bis heute sind die Unterschiede zwischen Frauen- und Männerbereichen bezüglich Akzeptanz und Anerkennung immer noch groß. Mädchen/Frauen haben heute immer noch höhere Zugangsbarrieren zu überwinden als Burschen, wenn es um maskulin konnotierte Bereiche geht. So wie heute noch in den Bereichen der sogenannten MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik).

Die Sozialisationsinstanzen Eltern, Schule, Gesellschaft, Staat usw. wirken unablässig in der Geschlechtereinteilung und Zuordnung der Stereotypen. Für die Buben die Technik (Ball, Bauecke, Wettbewerb, Unangepasstheit – später: Hard Skills), für die Mädchen das Soziale (Puppe, Kochen, Grazie, Anmut, Angepasstheit – später: Soft Skills).

Dies führt von Anbeginn zur Exklusion auf beiden Seiten der Geschlechter. Schon da wird den Buben und Mädchen eingetrichtert und vorgelebt, was für sie passt und wie sie sein sollen. Buben haben Hosen an, Mädchen Röcke. Buben klettern, Mädchen sitzen in der Sandkiste und backen Kuchen, Buben spielen Fußball, Mädchen gehen zum Ballett? So kann sich bei den Buben räumliches, logisches Denken anders entwickeln als bei Mädchen, weil sie von Anfang an andere Erfahrungsräume haben.

„Die Schule macht die Mädchen dumm.“ So Franziska Stallmann, deutsche Psychologin und Schriftstellerin: Die Schule benachteilige die Mädchen, biete ihnen nicht die gleiche Chance, ihre Fähigkeiten, ihr Selbstbewusstsein und Vertrauen in die eigene Leistung zu entwickeln. Rollenklischees kämen in der Schule noch intensiver zum Tragen. Mechanismen der Benachteiligung für Mädchen in der Schule konstatiert auch die österreichische Schulforscherin Dr. Gabriele Nagy: Ein Grund liege auch im Status der Fächer.

In Nebenfächern wie Physik, Chemie, Biologie spiele die Mitarbeit der SchülerInnen für die Leistungsbeurteilung eine größere Rolle als in einem Hauptfach. Mädchen hätten die besseren Noten in diesen Fächern, weil sie für schulkonformes Verhalten belohnt würden und nicht, weil sie das, was sie gelernt hätten, tatsächlich auch verstanden hätten.

So wird das Sozialverhalten in der Schule besser bewertet als die Verstehenskompetenz. Dies führt zu dem Trugschluss: Mädchen glaubten, sie seien gut in diesen Fächern. Paradox ist allerdings, dass sich die Mädchen in den naturwissenschaftlichen Fächern dennoch für weniger begabt halten als die Burschen.

Diese meinten auch, dass die Naturwissenschaften wichtig seien für ihre berufliche Planung. Mädchen sehen das anders! Und auch Elfriede Hammerl, österreichische Schriftstellerin, hat da eine typische Zuschreibung parat: „Mädchen mit guten Noten sind bloß fleißig, aber nicht notwendigerweise intelligent. Burschen mit schlechten Noten sind bloß faul, aber eigentlich genial.“

Weit früher ansetzen

Will man geschlechtergerechte Bedingungen unter Anerkennung geschlechtsbedingter Verschiedenheit und der Gewichtung individueller Ansprüche auf Gleichheit und Andersartigkeit schaffen, ob bei Medizin-Aufnahmetests oder anderswo, muss weit vorher angesetzt werden: Mädchen und Burschen, Frauen und Männer müssen im gesamten Leben, im Kindergarten, in der Schule, in allen Sozialisationsinstanzen gleiche Anteile an Raum, Zeit und Aufmerksamkeit bekommen und gleiche Möglichkeiten, ihre Erfahrungen zu symbolisieren und ihre Fähigkeiten auszubauen.


Dr. Brigitte Trip ist Personalistin im Amt der Steiermärkischen Landesregierung, Dipl.-Ing. Doro Erharter ist selbständige Erwachsenenbildnerin und Unternehmensberaterin, Dipl.Päd. Philipp Leeb ist Bubenarbeiter und Genderexperte für das BMUK.

Alle drei Autoren sind auch auf verschiedenen Ebenen in der Gender- und Diversity-Beratung tätig.


E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.08.2012)

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