Die guten Jahre

Anton Benya und seine Apostel: das Erfolgsrezept einer Epoche. Auch ein Geheimrezept gegen die Krise? Ach, man wird doch noch träumen dürfen. Ein Blick zurück als Blick nach vorn.

Ganz aus dem Zeitgeist haben zum Gedenken an Anton Benya, zum hundertsten Jahrestag seiner Geburt, zwei Zeitzeugen, Heinz Kienzl und Herbert Skarke, eine Sammlung von Erinnerungen an die „glorreiche Periode“ von 1965 bis 1995 zu einem Buch vereint („Anton Benya und der Austrosozialismus“, soeben erschienen im ÖGB-Verlag). Weit über die persönlichen Reminiszenzen an den Heroen der Sozialpartnerschaft hinaus ist damit ein Einblick in das historische Geschehen dieser Epoche gelungen, die Österreich zum Wirtschaftswunderland und zur „Insel der Seligen“ machte. Nicht ganz zufällig, sondern wohl im Einverständnis mit den Lobspendern lässt sich aus diesen rezenten Überlegungen und Interview-Reaktionen von 16 hochrangigen Führungspersonen zu den „goldenen Jahren“ – und einem Interview mit Benya selbst aus dem Jahr 1990 – so etwas wie ein Geheimrezept gegen die Krise herauslesen. Und dem sei hier detektivisch nachgegangen. (Nicht weniger interessant, aber eher besser bekannt sind die gebotenen Erklärungen zum Kippen des Erfolgs an dessen Höhepunkt.)

Den Kern des Erfolgsrezepts bildet die Dreieinigkeit Innovation, Kohäsion, Koordination. Die Offenheit für das Neue wird von Heinz Kienzl in seinem Einleitungsessay als wichtigster Faktor des Erfolgs gesehen. „In den späten 1940er-Jahren haben wir eine neue Gesellschaft zu entwickeln begonnen, die sich grundlegend von der Gesellschaft vor 1914 unterschied.“ Eine neue Generation trat mit ihren Ideen an – und Benya war ein Symbol dafür. „Mit Benya gelangte in den Interessenvertretungen eine neue Schicht junger Mitarbeiter an die Schaltstellen der Wirtschaftspolitik.“ Damit verbunden war eine „Verwissenschaftlichung der Wirtschaftspolitik“ im Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen der Paritätischen Kommission. Der Austrokeynesianismus war die Losung, mit dem magischen Dreieck der Nationalökonomen: Vollbeschäftigung, Preisstabilität, ausgeglichene Leistungsbilanz. Dann, in den Sechzigerjahren, die Hartwährungspolitik. Alles Umbrüche, die „ein starkes Rückgrat“ forderten, nicht nur eine dicke Haut. – Innovation heißt Änderung, gestützt auf neues Wissen. „Immer waren es technische Entwicklungen, die diese Umbrüche herbeiführten“, meint Heinz Zourek, damals Leiter des Volkwirtschaftlichen Referats des ÖGB, heute in der Europäischen Kommission. Und die neuen Technologien drängen unaufhaltsam zur Globalisierung. Gegen alle Widerstände aus den eigenen Reihen war für Benya „die Priorität der Exportwirtschaft unumstößlich“, Voraussetzung für eine „produktivitätsorientierte Lohnpolitik“.

Das konnte auch Opfer bedeuten, im internationalen Marktwettbewerb. Aber wie Hannes Androsch in seinem Gespräch betont, gab es „den Geist der Lagerstraße“,diese Solidarität, wofür auch Bauwerke wie Kaprun, das Linz-Donawitz-Verfahren oder der Westbahnhof Symbole waren. „Solche einigenden Symbole fehlen uns heute.“

Innovation setzt neues Wissen voraus – und nicht nur oben an der Spitze, sondern auch in der Breite. Das war gegeben, wie sich Oskar Grünwald, ehemaliger Vorstandsvorsitzender der Österreichischen Industrieverwaltungs-AG, erinnert: „Alle im wirtschaftlichen Bereich Tätigen waren quasi als Wanderprediger bei Veranstaltungen und Seminaren in ganz Österreich unterwegs. Die berühmten 1400 Experten standen nicht nur auf dem Papier, sondern haben landauf, landab in vielen Arbeitsgruppen mitdiskutiert.“

Ohne Gemeinschaft ist Innovation so gutwie nichts – solche multiplikative Verbindung ist nach der neueren Sozialtheorie ein Naturgesetz. Das Erfolgsrezept der Benya-Epoche trug dem Rechnung. Und Benya lebte das vor. Thomas Lachs, der viele Jahre mit ihm arbeitete, charakterisiert die soziale Empfindsamkeit Benyas in zwei Episoden. „Zu dem vielen, das ich von Benya gelernt habe, gehört auch die politische Bedeutung des Preises einer Wurstsemmel und einer Flasche Bier – zumindest in der damaligen Zeit. Das erklärte er mir so: Unsere Arbeiter bekommen einmal in der Woche ihr Lohnsackerl, und die Braven bringen es ihrer Frau nach Hause. Sie gibt ihnen daraus ihr Taschengeld, mit dem sie sich ihre Jause in der Werksküche kaufen. Diese Jause besteht in der Regel aus Wurstsemmel und Bier. Daher sind das für unsere Kollegen im Betrieb die politisch heikelsten Preise, und darauf müssen wir Rücksicht nehmen.“ Das auf der oberen Ebene.

Und ganz privat: „In diesen Jahren war es nicht Usus, das Privatleben von Politikern in die Öffentlichkeit zu zerren. So war es nicht allgemein bekannt, dass Benya eine uneheliche Tochter hatte, um die er sich brav kümmerte. Das schloss auch ein, dass er versuchte, ihr bei ihren Schulaufgaben zu helfen. Da kam es durchaus vor, dass er sich etwas, wo er sich selber nicht sattelfest fühlte, von mir erklären ließ, damit er seiner Tochter weiterhelfen konnte.“ Ein winziges Musterstück von dem, was man heute Sozialkapital nennt.

Und auf solchem Urvertrauen in gegenseitige Beziehungen beruhte auch das „Konzept einer expansiven und beschäftigungsorientierten makroökonomischen Politik durch die freiwillige Selbstdisziplin der Sozialpartner“, wie AK-Präsident Herbert Tumpel es zusammenfasst. Dass zu solchem Miteinander nicht nur Freundschaft und Kumpelvertrauen gehören, sondern auch Ideale, betont in seinem Gesprächsbeitrag Rudolf Pöder, von 1974 bis 1990 Vizepräsident des ÖGB: „Ich habe noch immer das Parteibuch meines Vaters. Seit 1919 war der katholische Franz Pöder Mitglied der Sozialdemokratischen Partei und ist es bis zu seinem bitteren Ende bei einem Bombenangriff geblieben. Ich habe im Krieg ein Bein verloren. Ich bin in Wien im Lazarett gelegen, wie dann Österreich frei geworden ist. Und da habe ich mir geschworen, ich werde mein ganzes Leben lang einen Teil meiner freien Zeit dafür verwenden mitzuhelfen, dieses Land aufzubauen. Man ist voller Ideale als junger Mensch...“ – Und solch soziale Kohäsion war eben, nach dem Trauma der 30-jährigen Krise von 1914 bis 1945, die Grundlage der Erneuerung. In dem Gespräch zwischen Anton Benya und Walter Göhring vom April 1990, also auf dem kritischen Höhepunkt der „goldenen Jahre“, erklärte Benya: „Die Schaffung des überparteilichen Gewerkschaftsbundes – das war die ganz große Leistung der Männer der ersten Stunde.“ Politische Fraktionen: ja,jedoch „keine Richtungsgewerkschaften“. – Solch stabiles Miteinander im oft zum Zerreißen angespannten Kräftefeld zwischen links und rechts, unten und oben erforderte stetes Balancieren. Das sieht Werner Muhm, seit 2001 Direktor der AK Wien und der Bundesarbeiterkammer jetzt in der EU als Priorität: „Heute stehen auf europäischer Ebene rund 1500 mit immensem Kapital ausgestattete Lobbyverbände der Wirtschaft 50 den Gewerkschaften nahestehende Vertretungen gegenüber.“ Dabei gehe es nicht um Versuche, Interessenausgleiche wie in Österreich herbeizuführen, sondern um knallharte Interessendurchsetzung. „Wir brauchen eine europaweit koordinierte Investitionsoffensive, einen Beschäftigungspakt für die Jugend. Und vieles mehr an fortlaufender Abstimmung. Bis ganz hinauf. Die Möglichkeiten der Wirtschaftspolitik sind nur mehr eine Globalökonomie.“ – Zum Gleichgewichthalten in Österreich liefert Karl Blecha, in der Benya-Zeit führender Meinungsforscher unddann Innenminister, heute sozialistischer Pensionistenpräsident, fogendes Diktum: „Die Revolution des Austrosozialismus wareine Politik des Augenmaßes, wurde vom Grundsatz des Machbaren bestimmt.“

Sein Gesprächspartner Heinz Kienzl meint dazu: „Mir hat einmal der Sekretär der Metallarbeiter Michael Sagmeister gesagt, dass eigentlich nur Metallarbeiter Lohnverhandler werden sollten, denn der Metallarbeiter lernt schon als Lehrbub, wenn er zu viel vom Werkstück wegnimmt, dass es kaputt ist, wenn er zu wenig wegnimmt, ist es unbrauchtbar. Es muss immer das richtige Maß haben.“ Blecha beklagt auch: Möglichkeiten der Partizipation in den einzelnen Gemeinden hätten dazu führen können, die Autonomie zu stärken. „Das haben wir nicht geschafft.“

Das Ideal der Mehr-Ebenen-Autonomie,nämlich alles, was unten geht, unten zu entscheiden und zu machen, was nicht geht, aber auf die nächsthöhere Ebene zu delegieren – auch bis ganz hinauf –, ist schwer zu erreichen.

Bundespräsident Heinz Fischer warnt in seinem Interview vor jeder Einseitigkeit: „Keine Gesellschaft kann sich ohne gesellschaftspolitische Theorien, ohne Wettbewerb der Ideen, ohne Zukunftskonzepte dauerhaft entwickeln.“ Und er stellt fest: „Benya war aber auch einer, der sehr darauf geachtet hat, dass man eine klare Linie zum linken und zum recht Rand zieht.“

Warum ist es jedoch nach einer politischen Hochkonjunktur zur Verunsicherung, zu Schwierigkeiten gekommen? Das Thema Krise ist in den Beiträgen reichlich vorhanden – und bestätigt eigentlich großteils das Rezept. Die Erklärung durch einen gesellschaftlichen Paradigmenwechsel liegt auf der Hand. Für Ferdinand Lacina, Finanzminister in der beginnenden Krise, sogar auf der Straße. „Es hat mich damals wirklich schockiert, ich bin in Salzburg auf der Straße gegangen, es ging um die Frage, ob die Papierfabrik in Hallein überleben kann oder nicht. Vor mir sind zwei jüngere Damen gegangen, und die eine hat gesagt: ,Also, froh werd ich sein, wenn dieser Schornstein nicht mehr raucht.‘ Da ist wirklich ein Generationenbruch entstanden.“

Der soziologische Befund stimmt. Aber wieso hat die Gesellschaft darauf nicht mit dem bewährten Rezept der flexiblen Erneuerungsgemeinschaft reagiert? Gertrude Tumpel-Gugerell, von 2003 bis 2011 Mitglied des Direktoriums der Europäischen Zentralbank, vertritt die Ansicht, dass Österreich mit seiner institutionellen Zusammenarbeit im magischen „Viereck Finanzministerium, Nationalbank, Unternehmerverbände und Gewerkschaftsbund“ seiner Zeit zu weit voraus war. „Diese Zusammenarbeit gibt es auf europäischer Ebene auch heute nicht.“ War Österreich einfach schon abgehoben, ganz allein an der Vorderfront der Evolution? Im Gespräch meint Tumpel-Gugerell dazu: „Was schon auch zu Verzögerungen in der Wahrnehmung der Herausforderungen führen kann, weil man dann glaubt, das läuft immer so weiter.“

Fritz Verzetnitsch, 1987 bis 2006 Präsident des ÖGB, betont die Globalisierung der Krise: „Jetzt ist das politische System weltweit wesentlich stärker und gefährlich im Umbruch begriffen. Es ist nicht erkennbar, wohin das eigentlich gehen soll. Persönlich befürchte ich nicht, dass die Sozialpartnerschaft in Österreich verschwindet. Aber die Zielstrebigkeit, die wir brauchen, um etwas vorwärtszuentwickeln, ist wohl nicht ausreichend da.“ Doch Krise ist auch Herausforderung. „Ich glaube, dass es nach wie vor der Wunsch jedes Einzelnen ist, Sicherheit im Wandel zu haben.“

Man kann auch meinen, selbst in den guten Benya-Jahren seien manche großen Themen, insbesondere außerhalb der Ökonomie, nicht wirklich innovativ angegangen worden. Lore Hostasch, in der Krisenzeit der Neunzigerjahre führende Gewerkschafterin und Bundesministerin, kritisiert die Frauenpolitik der Sozialpartner deutlich: „Aus meiner Sicht war Kollege Benya geprägt von einer männerdominierten Arbeitswelt und Gesellschaft und auch Politik, so wie viele seiner Generation.“ Und sie zählt auch Gründe für die Krise auf: „einen Strukturwandel in der Beschäftigtensituation“, „unterschiedliche gesellschaftspolitische Zielsetzungen innerhalb der Gewerkschaften“, „die elektronischen Kommunikationsmedien“.

Was dem einen Ursachen sind, sind dem anderen Effekte – und nach der Theorie der Zirkularität von Teufelskreisen haben beide recht. So sollen auch an den Fakten klebende Krisenanalysen ernst genommen werden, die in dem Benya-Huldigungsbuch in nicht wenigen Beiträgen aufscheinen.

Georg Kovarik, Leiter des Volkswirtschaftlichen Referats des ÖGB, geht in seinem Text auf die wesentlichen Krisenereignisse ein: die Verluste der verstaatlichten Industrie und deren Privatisierung, die zunehmende Konkurrenz auf dem Weltmarkt, den „Kahlschlag“ im Sozial- und Gesundheitsbereich, den BAWAG-Skandal durch die „Karibikgeschäfte“ und den Verkauf der Bankan den US-Fonds Cerberus, den Mitgliederverlust des ÖGB. Doch „das Haus steht noch“, und das Image der Gewerkschaft hat sich jüngst wieder etwas erholt.

Franz Vranitzky, erst Bankmann, dann Finanzminister und von 1986 bis 1997 Bundeskanzler, führt im Gespräch auch noch die Politikkrise um das verhinderte Donaukraftwerk Hainburg an, „die Auserzung des Erzbergs in der Obersteiermark und damit die ernste Infragestellung der obersteirischen Stahlbetriebe“. In letzterem Fall gelang allerdings die innovative Rettung. „Und heute – gut zwei Jahrzehnte nach dem dramatischen Bangen und Hoffen – finden wir in der Obersteiermark einen Stahlclustermit beachtlicher internationaler Bedeutung vor: Schiene, Weiche, Röhren, Draht, Edelstahle.“

Das Gespräch mit Vranitzky weist auch auf die Chancen für die Zukunft – wenn das Rezept der goldenen Benya-Jahre beachtet wird: das Neue suchen, über die Gegensätze zusammenhalten, nie die Balance verlieren – und das auf allen Ebenen, lokal bis global. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.11.2012)

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